Weitere Geschichten aus dem Kreis Bütow von Georg Sonnenburg © 1986-2001
Erstveröffentlichung in: Die Pommersche Zeitung vom 6.2.1986


Das Mondscheintreiben

Mitten im Winter, wenn eine dicke Schneedecke auf den Feldern lag, fand in Bresinke das traditionelle Mondscheintreiben statt, an dem alles teilnahm, was auch nur noch einigermaßen einen Schießprügel tragen konnte. Die Männer versammelten sich um die Schlafenszeit bei Brauns in der guten Stube, stärkten sich mit diversen Klaren, brannten ihre Tabakspfeifen an oder steckten sich einen neuen Priem zwischen die vergilbten Zähne. Dermaßen gestärkt gingen sie in die frostklirrende Nacht hinaus, aus der von einem sternübersäten Himmel der Vollmond hernieder schien, der allem einen eigentümlichen Zauber verlieh. Mit knarrenden Stimmen und knirschenden Stiefeln gingen sie dick vermummt durch das kleine Dorf, in dessen warmen Stuben sich ihre besseren Hälften längst in die Federberge der Betten gekuschelt hatten und es nicht begriffen, was ihre Männer bei solcher Kälte unwiderstehlich auf die Feldmark hinaus zog.

Die kleine Truppe zog los, bis an die Zähne bewaffnet. Allen voran der olle Pethke mit seinem verrosteten Vorderlader, mit dem er gehacktes Blei statt Schrot verschoß, ein Kraut, das jeden Hasen auf hundert Schritt faßte, von dem erhofften Sonntagsbraten aber meist nicht viel übrig ließ. Trotzdem schwor Pethke auf seinen Schießprügel, den schon sein Vater geführt und den sein Großvater als Beute aus den Befreiungskriegen gegen Napoleon heimgebracht hatte. Hinter Pethke hastete mit trippelnden Schritten Schneider Wittke, der so klein war, daß sein Flintenkolben stets eine Furche in den Schnee pflügte. Ihm folgte Schröders Willem, ein allem Modernen zugetaner Mensch, der eine selbstladende Browningflinte sein eigen nannte, mit der er öfter ein mörderisches Feuer eröffnete, das die Krummen aber im allgemeinen wenig beeindruckte. Willems besondere Note war ein kaffeebrauner Priemstreifen, der ihm immer über das Kinn sabberte und bei strenger Kälte zu Eis erstarrte. Ihm folgte Begerows Paul, dem eine Kriegsverletzung zusetzte und der immer Mühe hatte, den Anschluß nicht zu verlieren. Er hatte einen uralten Hahndrilling über die Schulter gehängt, mit dem er, wenn das Schrot verschossen war, nicht selten auch mit der Kugel auf Hasen Dampf machte. In seinem Kielwasser pflügte Brauns Albert durch den Schnee, ein ebenfalls kleinwüchsiger Mann, dessen einläufige Hahnflinte auch schon bessere Zeiten erlebt hatte. Schröders Paul, Willems Bruder, trat in Brauns Fußtapfen, er hatte ebenfalls eine alte Hahnflinte über die Schulter gehängt.
Hinter ihm trottete die halbwüchsige Dorfjugend, die das Treiberamt besorgte. Sechs Bengels waren es, von denen drei dem Stamme Sonnenburg angehörten. Den Abschluß der Kolonne bildete mein Vater mit seiner „Sauer&Sohn“-Doppelflinte, die sein ganzer Stolz war und der es genoß, wegen dieser Waffe von den anderen bewundert zu werden. Der Vollständigkeit halber muß noch erwähnt werden, daß außer meinem Vater keiner der Schützen einen Jagdschein besaß. Dafür war aber jeder ein passionierter Jäger, und das war in dieser Zeit nach dem Ersten Weltkrieg die Hauptsache, als es in Pommern noch reichlich Wild und nur wenige Jäger gab.

An der Feldkante zum Fiskus postierten sich die Jäger auf altbekannten Plätzen, während die Treiber in weitem Bogen auf die Felder strebten und sich dabei zum Teil durch brusthohe Schneeverwehungen kämpfen mußten. Eine geraume Zeit tat sich danach erst mal gar nichts. Die Schützen standen im Waldschatten, sogen rasselnd an ihren Knöseln oder sogen schmatzend an den Priemstangen und harrten geduldig der Dinge, die da kommen sollten. Ab und zu vertraten sie sich die Füße oder rieben sich die erstarrten Ohren und Hände warm. Dabei kam es mancheinem in den Sinn, daß so eine Hasenjagd doch eine verdammt fußkalte Angelegenheit sei.

Aber dann lief es ihnen plötzlich siedendheiß zwischen Hemd und Buckel hinunter, denn über die glitzernde Schneefläche näherte sich der erste Krumme, den die Treiber weit draußen bei seinem kärglichen Mahl an gefrorenen Kohlstrünken oder mühsam freigescharrter Roggensaat aufgestöbert hatten. Ein ganzes Stück vor dem rettenden Wald blitzte und donnerte es und der Hase blieb mit zuckenden Läufen im aufstäubenden Schnee liegen. Das war Pethke mit seinem unvergleichlichen Vorderlader gewesen, der wieder einmal ganze Arbeit geleistet und Lampe schon auf achtzig Schritte in den Hasenhimmel befördert hatte.

Die nächsten Schüssel hallten beinahe gleichzeitig von rechts und links herüber. Während mein Vater mit zwei Schüssen zwei Hasen erlegt hatte, fuchtelte Schneider Wittke mit dem Flintenlauf zu lange in der Luft herum und schoß den Krummen gründlich vorbei. Wenig später veranstaltete Schröders Willem mit seiner Browning ein regelrechtes Schützenfeuer, das erfahrungsgemäß aber mehr moralische Wirkung hatte.

Mehr Weidmannsheil hatte Begerow mit seinem Hahndrilling, denn beide Hasen, die bei ihm in den Wald wollten, lagen gleich darauf sauber nebeneinander im Schnee. Der dritte Krumme traute dem Wintergewitter voraus nicht so recht und machte auf den Keulen Männchen. In diesem Moment brannte bei Begerow eine Sicherung durch. Er schaltete auf Kugel um und drückte ab, worauf voraus buchstäblich die Fetzen flogen.

Kurz darauf knallte es weit rechts, wo Schröders Paul seinen Stand hatte, und auch dort hatte es das Schicksal eines Lampe besiegelt. Still, sozusagen verdächtig still, blieb es geraume Zeit bei dem riesigen Kaddick, hinter dem sich Brauns Albert postiert hatte. Erst als die Treiber schon auf dem Schnee deutlich heran kamen, blitzte es auch bei ihm auf, und unmittelbar darauf begann ein Hund gottsjämmerlich zu heulen und zu wehklagen.

Ein lauer Zuruf meines Vaters beendete darauf die Jagd und befahl die Schützen zum Sammelpunkt. Braun blubberte schon von weitem etwas von „blöder Köter“ und „wat hätt sich dat ull Mistvieh uck uppem Fild rumtodriewe“ und erschien als letzter, von den Jagdgenossen unterschiedlich empfangen. Von der anderen Seite näherte sich fast zeitgleich Pethkes „Tussie“, dessen Spur im Schnee verdächtig dunkel gefärbt war. Bei dem nun folgenden Kriegsrat wurde festgestellt, daß Braun „dei ull Töl“ für einen Krummem gehalten und darauf Dampf gemacht hatte. Ein Wunder war das nicht, weil sein Augenlicht schon merklich nachließ.

„Binoh häddst mi truffe, Albertke“, grunzte Wittke unfreundlich, „ick heerd jenau, wie dat Schrot bi mi vörbiepiept is.“

„Bist jo uck nich veel gröter as Tussie“, spottete Schröders Willem, der es nie lassen konnte, auf Wittkes geringe Körpergröße anzuspielen. Wittke, der es, wie alle kleinen Menschen, haßte, wenn er mit seiner Kleinheit gehänselt wurde, warf Willem einen vernichtenden Blick zu.

Mein Vater als Jagdherr schlichtete den Disput, zumal „Tussie“ nachts ja auch wirklich nichts auf den Feldern zu suchen hatte. Das mußte auch Pethke einsehen, an dessen Knie sich der Unglückshund gekauert hatte, der immer noch leise vor sich hinwinselte. Eine spätere Untersuchung ergab Schrotkörner in beiden Vorderläufen, doch die Knochen waren heil geblieben. Schlimmer wog, daß „Tussie“ die Welt nur noch einseitig erkennen konnte, weil ein Schrot sein linkes Auge zerstört hatte.

Endlich hoben die Jäger ihre Beute auf, die aus sieben Krummen bestand, und gingen, gefolgt von den Treibern, heimwärts. Abgesehen von dem Zwischenfall mit „Tussie“ konnten sie mit dem Erfolg zufrieden sein, und waren es wohl auch. Die Treiberjugend machte gleich nach der Rückkehr ins Dorf, daß sie in die Betten kam, waren doch alle todmüde, aber die Schützen kehrten noch beim Jagdherrn ein, wie sie es immer getan hatten. Nachdem sie vor der Haustür den Schnee sorgfältig von den Stiefeln abgetreten hatten, setzten sie sich erwartungsvoll auf die Ofenbank. Und sie wurden nicht enttäuscht, denn in der Küche summt leise der von meiner Mutter vorsorglich aufgesetzte Wasserkessel. Gleich darauf erschien mein Vater mit Tassen, einer Buddel Rum und Kandiszucker, stellte alles auf den Tisch, holte auch den Wasserkessel und schenkte ein. Rum nahm jeder nach eigenem Gutdünken, wobei Wittkes Paul immer der erste war.

Bei einem steifen Grog tauten die erstarrten Glieder auf und sie erzählten von alten Zeiten, als die Hasen noch viel größer und ihre Anzahl auch mit der heutigen Zeit nicht zu vergleichen gewesen war. Überhaupt war damals, als Kaiser Wilhelm noch regierte, alles viel besser gewesen... Die Petroleumlampe auf dem Tisch hüllte den Raum in mildes Dämmerlicht und paßte so richtig zu dem Knacken der Kiefernscheite im bullernden Ofen, die mein Vater immer wieder nachlegte. Es wurde noch viel erzählt in dieser Nacht, und sie horchten bei ihrem Jägerlatein nur dann auf, wenn draußen der Frost einen Ast oder Stamm krachend bersten ließ. Der nächste Tag war ein Sonntag, da konnten sie eine Stunde länger schlafen.


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