Damals im Kreis Bütow. Geschichten aus dem Kreis Bütow von Georg Sonnenburg © 1991-2001
Erstveröffentlichung in: Die Pommersche Zeitung
Wiederabdruck in: Georg Sonnenburg, "Damals im Kreis Bütow" Frankenberg 1991, S. 92-100


Der Totengräber

Auf dem Lupowsker Kirchhof spukte es. Nicht immer schon, nein, erst seit man den allen Landstreicher O., einen Selbstmörder, dort zur letzten Ruhe gebettet hatte, ging es um. Gezeigt hatte sich der Geist des Unnosles sogar schon verschiedenen Leuten, aber man schenkte ihnen zunächst wenig Glauben, wie das so ist.

Als ersten erschreckte er den alten Schrock, der dort, spät abends von Neukrug kommend, auf seinem uralten klapprigen Drahtesel vorbeigestrampelt war und neben dem Tor zum Gottesacker "eine Gestalt" gesehen hatte. Schrock besaß keine Glocke an seinem Rad und rief deshalb jedem ein warnendes "Vorsicht, mein Hund beißt!" zu. So auch der Gestalt am Kirchhofszaun, die aber keine Antwort gegeben hatte, und da grauste es ihn sehr. Nun wußte aber jedes Kind im Dorf, daß Schrock zuweilen tief ins Glas guckte und dann mitunter Dinge sah, die andere nicht bemerkten.

Etwas mehr Gewicht hatte ein Erlebnis des Bauern Pollack, der stets einen Schlips umgebunden hatte und der deshalb "Herrnpollack" genannt wurde. Er war zu mitternächtlicher Stunde zu Fuß an dem im Wald gelegenen Kirchhof vorübergekommen, und es mutete sonderbar an, daß auch er von "einer Gestalt" redete, die dort reglos am Zaun gelehnt hätte.

Ernst wurde die Angelegenheit aber erst, als der alle Lehmann, seines Zeichens Bürgermeister von Lupowske und somit eine über jeden Zweifel erhabene Person, eines Abends gleichfalls eine unheimliche Begegnung gehabt hatte. Er hatte das Grab seiner früh verstorbenen Frau gepflegt und plötzlich hinter seinem Rücken ein abgrundtiefes Stöhnen vernommen. Herumfahrend hatte er sich Auge in Auge der schon erwähnten "Gestalt" gegenüber gesehen, die ihn "aus hohlen Augen" stumm angestarrt und sich von einem Augenblick zum anderen in Nichts aufgelöst hatte.

Lehmann wollte sein Erlebnis eigentlich für sich behalten, um nicht noch mehr Unruhe zu verbreiten, doch dann vertraute er sich seiner Schwiegertochter an, und die brachte es unter die Leute. Nun erst besann man sich der besonderen Umstände, unter denen O. auf den Lupowsker Kirchhof gekommen war.

Brauns Albert aus Bresinke war im letzten Frühjahr mit seinem Gespann erst spät abends von Schwarz Damerkow, wo er ein paar Fettschweine beim Raiffeisenverein abgeliefert hatte, nach Hause aufgebrochen. Da er sich von dem Erlös für die Borstentiere gehörig "ein paar genehmigt" hatte, ist es nicht weiter verwunderlich, daß er sich bei der Heimfahrt in der Himmelsrichtung irrte und statt nach Kleschinz in Richtung Groß Rakitt auf der Chaussee den Ort verließ. Erst kurz vor Saviat bemerkte er seinen Irrtum und lenkte als kurzentschlossener Mensch sein Gespann in den Waldweg nach Zeromin, der in weitem Bogen auch nach Bresinke führte. Dann döste er wieder, angenehmen Gedanken nachhängend, im Halbschlaf vor sich hin. Seine Pferde fanden den Weg auch ohne sein Zutun, zumal sie in der Dunkelheit auch viel besser sehen konnten als er. Wer beschreibt sein Erschrecken, als ihm jemand unvermittelt so heftig gegen die Stirn trat, daß ihm vor Schmerz das Wasser in die Augen schoß. Stöhnend rieb er sich die mißhandelte Stelle und fand es dabei höchst ungewöhnlich, auf dem Kutscherbock einen Tritt vor den Bregen zu kriegen. Um der Sache auf den Grund zu gehen, wendete er und fuhr zurück, wobei ihm der unsichtbare Unnosel abermals, diesmal aber von der anderen Seite, gegen den Dassel trat. Wutentbrannt packte Braun blitzschnell zu - und hielt ein paar Stiefel in den Händen.

Jeder wird nachempfinden können, daß er urplötzlich stocknüchtem war. Er rief seinen Pferden ein lautes "Prrr" zu und befaßte sich als gründlicher Mensch näher mit dem Schubiak, der ihn mißhandelt und erschreckt hatte und der sich weiterhin mucksmäuschenstill verhielt. Immerhin sind in der Luft hängende Stiefel nichts Alltägliches.

"Teiw ma, Friendke", murmelte Braun, "ick war die bull." Dann kletterte er auf den Kutscherbock, grabbelte an den Stiefeln in die Höhe und stellte mit wachsender Aufregung fest, daß in dem nicht mehr neuen Schuhwerk Beine steckten. Als er dann noch ein eiskaltes Gesicht fühlte und zu allem Überfluß auch noch einen Strick ertastete, ging ihm über den vermeintlichen Luntrus endlich ein Licht auf. Zwar klein von Wuchs, hatte Braun doch das Herz eines Löwen, wie sich wieder einmal mehr zeigte. Er zückte kurzerhand sein Taschenmesser und durchtrennte den Strick, worauf der Erhängte von dem langen Eichenast ins Wagenstroh plumpste, in dem auf der Hinfahrt das Borstenvieh geschlummert hatte.

Nach einem kurzen inneren Ringkampf machte sich Braun mit dem Toten als unheimliche Fracht zum nächsten Gendarmen auf, den er in Jassen wußte. Es ist eine merkwürdige Eigenart aller Schutzleute, daß sie über nächtliche Störungen nur mäßig erfreut sind. So war es auch in diesem Fall, denn der Gendarm brummelte etwas von "grobem Unfug" und "nutzloser Störung" in seinen Bart und bedeutete dem Bauern danach unmißverständlich, den Leichnam gefälligst mitzunehmen und ihn am nächsten Morgen wiederzubringen. "Der Tote ist ja sowieso schon tot", schloß er die amtliche Auskunft messerscharf und machte anschließend die Haustür von innen zu.

Da stand Braun nun mit seinem Toten ziemlich ratlos auf der Dorfstraße und wollte ihn im ersten Impuls schon im Chausseegraben abladen. Da er aber ein von Natur aus friedfertiger Mensch war, besann er sich und kutschierte mit ihm nach Hause, wo er sich nach dem Ausspannen der Pferde still und leise auf den Heuboden empfahl, weil ihn üble Erfahrungen klug gemacht hatten. Seine Frau Martha pflegte nämlich auf nächtliche Störungen noch empfindlicher zu reagieren als Gendarmen.

Am nächsten Morgen weckte ihn ein vielstimmiges Geschnatter und er meinte nichts anderes, daß alle Gänse des Dorfes seinen Hof bevölkerten. Von der Bodenluke aus gewahrte er dann aber, daß sich das ganze Dorf um seinen Wagen herum versammelt hatte und mutmaßte, wer der Tote im Stroh sei. Während einige Brauns Albert ganz deutlich zu erkennen glaubten, schworen andere Stein und Bein, daß es ein stockfremder Kerl sei. Keiner wagte es indes, den Erhängten umzudrehen und ihm ins Gesicht zu sehen. Braun beendete den unfruchtbaren Streit damit, daß er sich in der Bodenluke lautstark als lebend meldete und stieg die Leiter herunter.

"Mok bloße, dat du mit emm wegkimmst!" rief Pethke warnend, als Braun Bericht erstattet hatte, "süst bliewe wi womeglich noch upp emm sitte!" Da spannte Braun gleich wieder an und fuhr nach Jassen, wo ihn der Wachtmeister, jetzt frisch und ausgeschlafen, deutlich freundlicher empfing als in der Nacht. Es gelang ihm auch mit kriminalistischem Scharfsinn überraschend schnell, den Toten als den "berufs- und stellenlosen Gelegenheitsarbeiter und Herumstreuner" O. zu identifizieren, der zuletzt beim Bauern Polzin in Lupowske eine Weile gearbeitet hatte. Aus diesem Grund verfügte er amtlich, daß die dortige Gemeinde für die Bestattung der Leiche verantwortlich sei.

Als gute Bürger nahmen die Lupowsker diese obrigkeitliche Weisung als gegeben hin und begruben O. abseits von ihren Toten in einer Ecke hinten auf ihrem Kirchhof, wie sich's bei Selbstmördern gehörte. Und jetzt rätselte alles herum, wie lange der Spuk sein Unwesen noch treiben werde, weil sich nämlich nur noch ganz Beherzte nach Anbruch der Dunkelheit am Kirchhof vorbei trauten.

Es gab allerdings doch einen, der an Spuk nicht glaubte und deshalb überall, wo darüber geredet wurde, seine spöttischen Bemerkungen machte. Es handelte sich um den Besitzer des Restguts Dombrowo, Paul Radtke, der sich schon immer als was Besseres vorgekommen war. Er zeigte das allein dadurch, daß er stets mit einem ausgedienten Kavalleriegaul unterwegs war. Als eines Abends wieder einmal in "Borks Krug" in Lupowske die Rede von dem Geist auf dem Kirchhof war, rief Radtke mit überlegenem Grinsen dazwischen: "Is doch allens Mumpitz, Leut', Spuk jibt's ja gar nich!" Das hätte er nicht sagen sollen, denn auf einen Schlag hatte er die Volksmeinung geschlossen gegen sich, weil jetzt nämlich sogar diejenigen gegen ihn waren, die bisher noch leise Zweifel gehabt hatten. Beleidigtes Schweigen an allen Tischen bewies das, und aller Gesichter drückten Ablehnung und Empörung aus.

Post-Herrmann, ein Mensch mit halber Beamteneigenschaft und deshalb auch zu den Größen des Dorfes gehörend, faßte sich als erster und erwiderte heftig: "Wenn Er so mutig ist, wie Er tut, denn geh Er doch gleich jetzt auf 'n Kirchhof, aber allein!" Der Posthalter, der gern den Alten Fritz kopierte, sah den anderen vernichtend an. "Is doch nischt dabei!" rief Radtke und machte eine abwertende Handbewegung. Soviel Unverfrorenheit trieb Albrechts Max die Zornesröte ins Gesicht und er raunzte grimmig: "Ich wett', daß Se sich manich trauen tun, au'n Kirchhof zu jeh'n und zu rufen "wer von Euch kommt mit innen Krug, mit mir einen Schoppen trinken?'."

Jetzt starrte die Männerrunde mit überlegenen Blicken den Restgutsbesitzer an, fest davon überzeugt, daß das Großmaul kneifen werde. Radtke entgegnete jedoch vollkommen unbeeindruckt: "Die Wett' gilt - aber nachher jeben Sie 'ne Rund' aus." Albrecht zögerte sekundenlang, ehe er "ja" murmelte, weil Geld bei ihm stets knapp war. Er nannte nämlich in der Hauptsache Sandboden sein eigen. Alle drängten nach draußen, wo Radtke schweigend auf seinen Gaul kletterte und sogleich in Richtung Kirchhof davontrabte. Die anderen kehrten eilig in die warme Schankstube zurück, heimlich froh darüber, nicht die Stelle des Restgutsbesitzers einnehmen zu müssen.

Der zockelte unterdessen durch die stürmische Herbstnacht, in der sargdunkle Finsternis alle Augenblicke mit beinahe Tageshelle abwechselte, je nachdem ob der volle Mond durch die schwarzen Wolken brach oder sich dahinter versteckte. Kurz hinter dem Dorf im Wald war es wieder stockdunkel. In den Lüften heulte und brauste es und die Äste und Zweige der Kiefern ächzten und stöhnten schaurig unter den Windstößen. Einzelne Graupelkörner peitschten herunter und schlugen dem einsamen Reitersmann ins Gesicht, der sich plötzlich überall von unsichtbaren Gefahren umlauert fühlte.

Dann tauchte linker Hand endlich die Lichtung mit dem Kirchhof auf, wo sich das Jaulen und Fauchen des Windes noch verstärkte. Radtke lenkte sein Pferd vor das Tor des Gottesackers, das merkwürdigerweise offenstand und hielt an. Genau in diesem Moment brach der Mond wieder aus den Wolken hervor und überflutete taghell das Grüberfeld, meißelte die vielen Denkmäler und Grabkreuze aus der Dunkelheit und ließ Radtke sogar einzelne Inschriften erkennen. Die vielen schwankenden Lebensbäume an den Grabstätten kamen ihm unvermittelt wie tückische Gespenster vor, die sprungbereit schon auf ihn lauerten. Ihm schnürte plötzlich etwas die Kehle zu, denn aus dem Innern der Erde war auf einmal ein dumpfes Klopfen zu hören, das sich genauso anhörte, als schlage jemand gegen einen Sargdeckel.

Radtke mußte buchstäblich das letzte Quentchen Mut zusammennehmen, ehe er mit seiner blechernen Stimme, die ihm selbst ganz fremd vorkam, in eine kurze Windpause hineinschrie: "Wer von Euch ist bereit, mit mir in den Krug zu gehen und einen Schoppen zu trinken?" Sein Ruf hallte gespenstisch vor den Grabmalen wider und kehrte als hohles Echo aus dem Wald zurück; unheimlich und schaurig anzuhören. Und dann gerann dem Reiter jäh das Blut in den Adern und sein Herzschlag setzte aus, während ihm eine eiskalte Hand den Hals zuschnürte. In derselben Richtung nämlich, aus der vorhin jenes unheimliche Pochen aus dem Erdreich gekommen war, reckte sich jetzt, vom Mondlicht deutlich beschienen, aus einem Grab ein Kopf, ein Totenkopf! Und eine weltliche Stimme rief: "Ich!"

Da gingen dem Restgutsbesitzer die Nerven durch. Er riß den Gaul auf der Hinterhand herum, gab ihm die Sporen und jagte wie von Furien gepeitscht davon, sich dauernd über die Schulter schielend, ob auch kein Geist bei ihm aufsitze. Die Männer im Krug hörten die schmetternden Hufschläge vorüberdonnern und wunderten sich, daß sich die Geräusche in der Ferne verloren. "Wat schall dat?" Post-Herrmann schüttelte zweifelnd den Kopf. "Hei is no Hus ritte", brummelte Heinrichs Emil enttäuscht. Er hätte Albrechts Max, der süffisant vor sich hingrinste und davon überzeugt war, daß es der Geist des Selbstmörders dem Großmaul gegeben habe, wegen seiner Spukgläubigkeit eine Lektion gegönnt.

"Un wat is nu mitte Wett'?" erkundigte sich Bachers Eugen und starrte betrübt in sein Bierglas hinein. "Do mutt wi awteiwe", meinte sein Onkel August, gleichfalls enttäuscht, weil sein Glas längst leer war.

Sie rätselten noch über Radtkes absonderliches Verhalten, als mit einem Schwall eiskalter Luft Franz Herrmann von draußen hereinkam, der nebenbei das Amt des Totengräbers ausübte. Er setzte sich an einen Tisch und erzählte lebhaft, daß er auf dem Kirchhof ein Grab für die vorgestern verstorbene olle Stoysche geschaufelt habe. Als er damit beinahe fertig gewesen wäre, sei am Eingang jemand "hoch zu Roß" erschienen und habe ihn zum Schoppen in den Krug eingeladen. "Ober as ick mi melde deit, da is hei as'n Verrückter wegritte", schloß er ein bißchen bedeppert und strich sich über seine angehende Glatze. Dann bestellte er ein Bier, weil das Graben ihn durstig gemacht hatte. Die Männer im Krug sahen sich eine Weile mit merkwürdigen Gesichtern an. Endlich platzte Braun aus Bresinke als erster los, die anderen zu brüllenden Lachsalven mitreißend.

Radtke hatte die Glatze des Totengräbers tatsächlich für einen geisterhaften Totenkopf gehalten und dessen Antwort als die Stimme eines Dahingeschiedenen hingenommen. Er lag zwei Wochen mit einem Nervenschock im Bett und war nicht mal von seiner Frau ansprechbar. Als er später die Wahrheit erfuhr, konnte er darüber trotzdem nicht lachen, weil ihm der Schreck noch immer in den Gliedern steckte.


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