Damals im Kreis Bütow. Geschichten aus dem Kreis Bütow von Georg Sonnenburg © 1991-2001
Erstveröffentlichung in: Die Pommersche Zeitung
Wiederabdruck in: Georg Sonnenburg, "Damals im Kreis Bütow" Frankenberg 1991, S. 6-15


Das Schweinerennen

Den Grafen Woldemar plagten schwere Sorgen. Als ein Mann, der mit beiden Beinen im Leben stand und der allem Schönen zugewandt war, hatte er es immer verstanden, aus jeder Situation das Beste zu machen. Selten war es vorgekommen, daß ihn ein Ereignis verstimmt hatte, aber noch niemals hatte jemand erlebt, daß ihn etwas vollkommen aus der Bahn geworfen hatte. Und genau das war jetzt passiert; für alle unfaßbar, weil unglaublich und sogar für den Grafen selbst von so einschneidender Erkenntnis, daß ihn dies Tag und Nacht peinigte und ihn sogar um seinen gesunden Schlaf brachte, um den ihn seine Gemahlin Mechthild ein gemeinsames Leben lang beneidet hatte. Schlimmer wog beinahe noch, daß ihm Essen und Trinken nicht mehr schmeckten, denn der Graf gehörte, seinem Naturell entsprechend, zu jenen Menschen, bei denen die leiblichen Genüsse mit fortschreitendem Alter einen zunehmend höheren Stellenwert einnehmen. Ein rundlicher Schmerbauch zeigte dies deutlich, und eine Rotweinnase gab davon Kunde, daß er auch kein Abstinenzler war.

Niemand beschreibt die Enttäuschung der Mamsell, wenn die besten Leckerbissen, die sie für ihn aus Küche und Keller heraufholen ließ, kaum angerührt auf dem silbernen Tablett zurückgebracht wurden. Nicht anders erging es dem schon recht betagten Diener Heinrich, der seinem Herrn allabendlich eine Flasche Rotspon im Jagdzimmer servierte, und die dann, nicht wie sonst üblich bis zur Neige geleert, am nächsten Morgen noch halbvoll dastand. Im Gegensatz aber zur Mamsell, die mit rotgeweinten Augen die übriggelassenen Köstlichkeiten verdrossen an die Hunde verfütterte und die untröstlich war, nahm Diener Heinrich das restliche Getränk, durchweg Tröpfchen bester Jahrgänge und Lagen von Rhein und Mosel, mit auf sein Zimmer unter dem Dach des Schlosses und prostete dort vergnügt seinem Spiegelbild zu, nach jedem Schluck in eine ausgelassenere Stimmung geratend.

Gräfin Mechthild drang vergebens in ihren Gemahl, was ihn bedrückte, denn Woldemar hüllte sich in beharrliches Schweigen und reagierte höchstens gereizt und abweisend, wenn ihm ihre Fragerei auf die Nerven ging. Nein, mit seinem Problem, das ihm die Lebensfreude gehörig vergällte, mußte er schon selbst fertig werden, da konnte ihm keiner helfen.

Angefangen hatte das Ganze in "Mundt's Hotel" in Stolp im Herrenzimmer, jenem getäfelten Raum, in dem sich alles traf, was in Hinterpommern Rang und Namen hatte. In dieses Heiligtum alten Landadels hatte sich der Restgutsbesitzer Radtke eingeschlichen, ein aufgeblasener Fatzke, ein Gernegroß, der alles daransetzte, von den Rittergutsbesitzern als einer der ihren anerkannt zu werden. Wenn man einmal davon absah, daß ein Mensch, der mit Ach und Krach 350 Morgen sein eigen nennt und der deshalb eine eigene Jagd haben darf, noch längst kein richtiger Gutsbesitzer ist (unter 1 000 Morgen war da in Pommern nichts zu machen!), haperte es - und dies vor allem - mit dem Namen. Schlicht und ergreifend Radtke - das ging beim besten Willen nicht! Hätte wenigstens noch ein "von" davor gestanden, aber so ... ?!

Radtkes Paul, dieser Luntrus, hatte sich irgendwie in besagtes Herrenzimmer Einlaß verschafft und darin, wie es seiner großmäuligen Art entsprach, sogleich das große Wort geführt. Zuerst hatten sich die Herren nur mit deutlichem Befremden angesehen, bis dem Besitzer von Jerskewitz, der von seinen Leuten immer noch mit "Herr Landrat" tituliert wurde, weil er vor Jahren mal ein solcher gewesen war, der Geduldsfaden riß und er sehr deutlich geworden war. Anstatt nun aber "Leine zu ziehen" oder sich wenigstens zurückzuhalten, hatte Radtke noch einen Schoppen Wein bestellt und danach aufmüpfig weitergequasselt. Vor allem hatte er sein Reitpferd, den schon reichlich betagten Wallach Isidor, über den grünen Klee gelobt und allen -weiszumachen versucht, daß er der beste Renner weit und breit sei.

Solcher Frevel hatte dem Grafen Woldemar, einem sonst ruhigen und bedächtigen Mann, regelrecht die Galle Überlaufen lassen, denn er kannte den Klepper des Restgutsbesitzers genau, an dessen vorstehenden Hüftknochen man bequem einen Hut anhängen konnte, und außerdem verachtete er nichts mehr als Prahlerei. So hatte er, vor Zorn buchstäblich von allen guten Geistern verlassen, heftig ausgerufen: "Daß ich nicht lache! Da sind ja meine Borstenviecher noch schneller als Ihre milde Mähre!"

Darauf war es sekundenlang totenstill gewesen im hinterpommerschen Heiligtum und die Augen aller Herren waren mit hämischer Genugtuung auf Radtke gerichtet gewesen, dem das Kinn verdächtig herunterhing und der den Grafen wie eine Erscheinung anstierte. Endlich schien er sich aber von dem Hieb erholt zu haben, denn er trank seinen Wein auf einen Zug leer, stand auf, reckte sich zu voller Größe und erklärte kurz und knapp: "Ich nehme die Wette an, Herr Graf. Das weitere werden Sie von mir noch hören." Damit war er hocherhobenen Hauptes aus dem hehren Raum gegangen.

Seitdem waren vier Wochen vergangen, in denen Radtke den Grafen hatte wissen lassen, daß er zu jedem geeigneten Zeitpunkt und Ort bereit sei, das Rennen auszutragen. Daß die Wette galt, war damit perfekt, aber wie sie ausgetragen werden und welche Modalitäten dabei gelten sollten, das raubte Graf Woldemar die Seelenruhe. Wenn man die Dinge bei Licht betrachtete, dann lagen die Ursachen für diese Misere weit zurück, und zwar bei demjenigen, der daran schuld war, daß es das Restgut Dombrowo überhaupt gab, das vermaledeite Restgut und seinen Besitzer Radtke, diesen krummen Hund. Traurig war allerdings dabei, daß diese Erkenntnis Graf Waldemar auch nicht aus der Patsche half, denn der Sündenbock, ehemals Besitzer des Ritterguts Groß Nossin, weilte längst nicht mehr unter den Lebenden. Er hatte sich sozusagen in die ewigen Jagdgründe abgesetzt. Dabei hatte dieser edle Herr um die Jahrhundertwende als Offizier bei den Totenkopfhusaren in Danzig-Langfuhr ein gar lustiges Leben geführt und erst viel zu spät festgestellt, daß seine lockeren Ausgaben die Einnahmen des gewaltigen Besitzes erheblich überstiegen. Sein Motto war übrigens geraume Zeit der vielbelachte Spruch "Alter Wein und junge Weiber sind die besten Zeitvertreiber" gewesen. Zu Anfang hatte er noch aus der Not eine Tugend gemacht und versucht, durch Holzschlag und -verkauf aus seinen riesigen Waldungen zwischen Stolpe und Lupow die drückenden Verbindlichkeiten, die allmählich lästig wurden, abzudecken. In der Nähe der damaligen Schäferei Bresinke, unweit der weißen Moore, hatte er mitten im Wald hastig eine Sägemühle bauen lassen, die Tag und Nacht gearbeitet hatte und das mittels Pferden auf Loren herangekarrte Langholz zu Brettern und Balken schnitt, die andere Fuhrwerke zum gerade erst fertiggestellten Bahnhof Jassener See gebracht und dort verladen hatten. Schon bald hatte sich aber gezeigt, daß es mit dem Holzeinschlag allein nicht getan war, und weil die Gläubiger drängten und ständig neue Wechsel fällig wurden, hatte der geplagte Husar Ländereien abstoßen müssen und so sein Rittergut von stolzen 28 000 Morgen auf 2 000 Morgen verkleinert.

Diesem Umstand also verdankte der seltsame Radtke seinen mickrigen Besitz, und demselben Umstand verdankte Graf Woldemar seinen Kummer, der ihn überhaupt nicht mehr ruhen und rasten ließ "Radtke!" Wo immer Woldemar ging und stand, hatte er nichts anderes als diesen Menschen und seine niederträchtige Wette im Sinn, dabei bewußt übersehend, daß er selbst seine Misere verschuldet hatte.

Am schlimmsten peinigte den Grafen, daß er niemanden hatte, dem er sein Herz ausschütten konnte. Gräfin Mechthild hätte ihm, wie alle Frauen an ihrer Stelle.- bitterste Vorwiirfe gemacht, und die Nachbarn wären mit Spott und Hohn über ihn hergefallen. Da letztlich jeder Mensch aber jemanden braucht, dem er sein Herz ausschiitten kann, weil geteiltes Leid bekanntlich halbes Leid ist, vertraute sich Woldemar bei einer Ausfahrt auf seinen Feldern am Jassener See entlang seinem Kutscher an, der ohnehin für ihn so etwas wie ein Vertrauter war, weil der einfache Mann schweigen konnte wie ein Grab. Bujacks Otto hörte seinem Herrn stumm zu und sagte zu dessen Enttäuschung auch dann nichts, als dieser geendet hatte. Daß er über eine Lösung krampfhaft nachdachte, verriet Kundigen allerdings sein stoßweiser Atem, den er immer dann ertönen ließ, wenn sich seine Gedanken stark mit etwas beschäftigten.

Bujacks Otto war nicht nur herrschaftlicher Kutscher auf dem gräflichen Rittergut Jassen, sondern er tat sich auch noch auf dem Gebiet der Viehheilkunde hervor. Zu kranken Kühen oder Pferden gerufen, pflegte er zuerst vorn, danach auch hinten tief Einblick in die geplagte Kreatur zu nehmen, hinten allerdings meist länger als vorne, um danach eine meist treffende Diagnose zu stellen. Versagte seine Kunst jedoch, dann war die Stunde von Albrechts Max gekommen, der von Herrmannshof eilends herbeigeholt wurde und das Vieh besprechen mußte. Erst wenn der auch nichts ausrichten konnte, wurde der Tierarzt gerufen. Was Wunder, daß dessen Hilfe fast immer zu spät kam, sein Ansehen darunter aber verständlicherweise litt und sein Erscheinen schließlich mit dem Krepieren des Viehs gleichgesetzt wurde.

Entgegen Graf Woldemars Annahme wußte Bujacks Otto allerdings schon nach ein paar Tagen Rat; in der vertrackten Geschichte mit dem ungleichen Rennen und fuhr mit seinem Herm zur Schweinemeisterei, die ungefähr zwei Kilometer vom Gut entfernt gelegen war. Dort zeigte er dem Grafen eine Rotte langbeiniger, auffallend dürrer Läuferschweine, auch Pölke genannt, deren Anblick allein dem Gutsbesitzer regelrecht Angstschweiß ausbrechen ließ. Dies nicht zuletzt deshalb, weil nämlich er selbst für die Anschaffung der neuen Schweinesorte verantwortlich zeichnete. Seine Miene hellte sich aber deutlich auf, als ihm Bujack einen verwegenen Plan entwickelte, der darin bestand, die Windhunden stark ähnelnden Borstentiere ab sofort auf dem Gut zu füttern und sie anschließend zur Schweinemeisterei zurückzutreiben. "Wenn wir das paarmal jemacht haben, Herr Graf, denn soll'n Se ma sehn, wie die abhauen tun", schloß er seinen Bericht und sah seinen Herrn mit hintergründigem Grinsen an. "Mann, da haben Sie aber wirklich das Ei des Kolumbus gefunden!" stieß Graf Woldemar erleichtert hervor und gab augenblicklich Weisung, entsprechend Bujacks Plan zu verfahren.

Von jetzt ab sah er beinahe täglich zu, wenn die Schweine freigelassen wurden und quietschend und grunzend in Richtung Futterstätte davonrannten. Daß sie die Strecke in zunehmend kürzerer Zeit zuriicklegten, stimmte den Grafen hoffnungsvoll und ließ ihn zuversichtlich in die Zukunft blicken. Ihm schmeckte auf einmal auch das Essen wieder, was die Mamsell froh stimmte, und auch der Wein, was den Diener traurig stimmte, weil der jetzt keinen Dömmerschoppen erlesener Tropfen mehr trinken konnte.

Und dann war der große Tag herangekommen, und eine beachtliche Herrenrunde hatte sich auf Einladung des Grafen bei der Schweinemeisterei eingefunden. Alle harrten voller Spannung der Dinge, die da kommen sollten, hatte Woldemar doch dafür gesorgt, daß das ungleiche Wettrennen landauf, landab bekanntgeworden war, nachdem er gewiß war, mit seiner Schweineherde den Sieg zu erringen. Immerhin hatten die hageren Borstentiere die Strecke von genau 2 300 Metem zwischen Gut und Schweinemeisterei zuletzt in geradezu olympiaverdächtiger Zeit zurückgelegt.

Bevor das Rennen losging, hielt Woldemar eine kurze Rede iiber die ungeheure Bedeutung der Wette und setzte in eigener Machtvollkommenheit 300,00 Reichsmark filr den Gewinner fest. Das vernahm Radtke vom Rücken seines alten Wallachs herunter mit wohlgefälligem Kopfnicken. Das Geld würde er gut gebrauchen können, weil ihm Blattwanzen beinahe die ganze Wrukenernte vernichtet hatten. Am eigenen Sieg hatte er nicht die geringsten Zweifel. Er war sich seiner Sache dermaßen sicher, daß er für die grunzenden Schweine, die unruhig hin und her liefen, keinen einzigen Blick übrig hatte. Dabei wäre es besser gewesen, das zu tun, weil er dann vielleicht mit etwas mehr Vorsicht an den Start gegangen wäre. Aber wer glaubt schon daran, daß Schweine bessere Läufer sind als Pferde? Sie vielleicht? Nein? Ich auch nicht!
Auf ein Zeichen des Grafen galoppierten seine Nachbarn v. Natzmer-Jerskewitz und v. Schwerdtner-Pomeiske voraus zur Futterstelle, wo sie auf die Ankömmlinge warten und den Sieger bestimmen sollten. Als sie nicht mehr zu sehen waren, rief der Graf mit markiger Stimme: "Auf die Plätze! Fertig - looos!" Im selben Augenblick, als Radtke seinem Gaul die Zügel freigab, ratterte hinter ihm das Gatter hoch und von einer Sekunde zur anderen umringte ihn eine grunzende, schnaubende, quiekende und tobende Schweinemeute, die um das Roß herumwimmelte und es nicht einen einzigen Schritt vorankommen ließ. Isidor stieg angstvoll wiehernd auf der Hinterhand hoch und Radtke hatte alle Mühe, von dem scheuenden Tier nicht abgeworfen zu werden. Als er den Gaul endlich wieder in der Hand hatte, sah er die Schweineherde in beträchtlicher Entfernung schemenhaft in einer dichten Staubwolke davonjagen. Kutscher Bulack sah ihnen ebenfalls nach und ein verschmitztes Lächeln umspielte seinen Mund; schließlich war er es ja gewesen, der dem Schweinemeister eingeschärft hatte, das Borstenvieh schon seit zwei Tagen nicht mehr zu füttern, so daß der nagende Hunger es beinahe rasend gemacht hatte. Während Radtke seinem Wallach die Sporen in die Seiten haute und losgaloppierte, half Bujack seinem Herrn gemächlich in die Kutsche und zockelte sonder Eile den Weg entlang, den die ungleichen Renner vor ihnen genommen hatten.

Am Ziel trafen sie auf eine grunzende Schweineherde, die sich mit fröhlich geringelten Schwänzen um den wohlverdienten Fraß balgte und die nicht das geringste davon ahnte, welchen aufsehenerregenden Sieg mit Längen sie gerade für ihren Besitzer errungen hatte. Daneben hockte mit versteinertem Gesicht der Restgutsbesitzer, der fortwährend den Kopf schüttelte und aus dessen Augen Fassungslosigkeit sprach. "Gratuliere zum Sieg, Graf!" rief ihnen der "Landrat" entgegen.

Der Graf stieg befriedigt aus seiner Kutsche und stiefelte gemessen zu seinen Schweinen, die sich die Eicheln und Bucheckern schmecken ließen. Er kratzte der Leitsau dankbar hinter dem Ohr und sah anschließend zu Radtke hinüber, der sein Unglück immer noch nicht fassen konnte. Der verfehlte Sieg und der damit verbundene Gesichtsverlust trafen ihn beinahe noch härter als die verlorenen 300,00 Mark, eine Summe, die für ihn keine Kleinigkeit war. Hätte er sich auf diese Wette doch nur nicht eingelassen! Aber hinterher ist man meistens klüger als vorher.

Während Graf Woldemar mit seinen Freunden zum Schloß ging, um mit ihnen gebührend den Sieg zu feiern, ritt Radtke als gebrochener Mann nach Dombrowo zurück. Die Wettsumme mußte er so oder so aufbringen, denn Wettschulden sind Ehrenschulden. Zum Schluß bleibt festzuhalten, daß er im Herrenzimmer von "Mundt's Hotel" zeit seines Lebens nicht wieder gesehen wurde. Und genau das hatte Graf Woldemar ja mit seiner Wette erreichen wollen.


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