Damals im Kreis Bütow. Geschichten aus dem Kreis Bütow von Georg Sonnenburg © 1991-2001
Erstveröffentlichung in: Die Pommersche Zeitung
Wiederabdruck in: Georg Sonnenburg, "Damals im Kreis Bütow" Frankenberg 1991, S. 63-70


Das neue Motorrad

Wann Fischer Franz den Entschluß gefaßt hat, sich ein Motorrad zuzulegen, ist nicht überliefert, denn über seinen Plan hat er zu niemandem auch nur ein Sterbenswörtchen verlautbart. Und das entsprach ganz seinem Naturell, denn er war ein überaus schweigsamer Mensch. Mir ist nie wieder jemand begegnet, der auch nur annähernd so schweigsam war wie Franz Judaschke, der Fischer von den Schottower Seen.

Franz kam vom schönen Garder See zu uns, und von dort brachte er einen Kahn mit, der sogar segelfähig war und der größenmäßig eigentlich gar nicht auf unsere Seen paßte. Mit diesem Unikum ruderte oder segelte er tagtäglich auf seinen beiden Seen umher und fing mit Reusen und Stellnetzen Fische verschiedener Art und Größe. Seine besondere Spezialität war der Aalfang mit Nachtschnüren, eine Fangart, die er erst von Groß Garde in unsere Gegend mitbrachte, denn vorher hatte man davon wenig gewußt. Und diese Fangart, vereint mit dem hölzernen Aalfang im Schattow-Bach zwischen dem Großen und dem Kleinen Schattower See, ließ ihn ziemlich schnell wohlhabend werden oder doch das, was man damals darunter verstand. Immerhin brachte das Pfund Aal damals schon eine Reichsmark, und an manchem Sommertag wurde manches Faß, gefüllt mit springlebendigen Aalen, vom Bahnhof Jassener See nach Berlin auf den Weg gebracht.

Wer Franz zum erstenmal begegnete, hätte ihn für eine Vogelscheuche halten können, denn einer solchen glich er ziemlich frappierend. Seine dürre Figur umschlotterten viel zu weite Beinkleider, die in riesigen, faltenreichen, hüfthohen Lederstiefeln steckten, die immer penetrant nach Lederfett rochen. Eine viel zu weite Joppe mit so vielen Flicken übersät, daß die ursprüngliche Stoffart nicht mehr zu erkennen war und die vom vielen Fischschleim schon auf eine beträchtliche Entfernung herben Geruch verbreitete, dazu eine speckige Schiebermütze, die er nicht mal zum Schlafen abnahm, vervollständigten seine Kleidung. An seiner Mütze war zu erkennen, wann Franz sein selbstgewähltes Schweigen zu brechen gedachte, denn dann begann der Mützenschirm zu wippen, erst langsam, dann immer schneller und wenn er endlich stillstand, war es soweit: Franz brachte das eine oder andere Wort heraus. Auf keinen Fall aber mehr, als unbedingt notwendig war.

Eine Sache für sich war auch seine Nase. Nicht weil sie lang, schmal und energisch gebogen war, sondern weil daran, gleichgültig zu welcher Jahreszeit, immer ein oder mehrere Tropfen hingen. Richtig ist, daß ihre Zahl in der kalten Jahreszeit größer war als in der warmen. Wir Kinder verfolgten gespannt, wenn der Tropfen größer und größer wurde und endlich auf die Joppe herabfiel.

Franz' Leben spielte sich überwiegend auf seinen Seen ab. Sein Domizil, ein Zimmer auf dem Dachboden unseres Hauses, suchte er nur selten auf, meist nur, um darin zu schlafen. Dort hauste er in einem umbeschreiblichen Durcheinander von Netzen, Reusen, Aalangeln, Netzgarn, Weidenruten, alten Lappen, einem wurmstichigen Bett, ebensolchem Nachttisch, einem Eisenofen nebst Kochtopf, Bratpfanne und Kaffeekessel, dazu ein Messer und ein Löffel. An weitere Utensilien kann ich mich nicht erinnern, und er hätte bei seiner spartanischen Lebensweise solche auch gar nicht gebraucht.

Und dann passierte die Geschichte mit dem Motorrad, die eigentlich ganz und gar nicht zu ihm paßte, denn er radelte bis dahin auf einem Drahtesel durch die Gegend, der noch aus den Anfängen des Fahrrads stammte und der deshalb auch entsprechend aussah - zu ihm allerdings paßte. Schwarzangler und Fischdiebe hatten es gut, denn sie hörten das Knirschen und Knarren der total verrosteten Kette schon auf eine beträchtliche Entfernung und konnten sich rechtzeitig in Sicherheit bringen.

Dem Motorradkauf voraus ging ein gutes Jahr mit reichlichen Aalen und anderen Fischen, die eine Menge Geld in die Kasse klingeln ließen, gepaart mit vielem Hinundherüberlegen, denn eine so große Anschaffung bedurfte gründlicher Abwägung. Endlich hatte Franz den Entschluß unumstößlich gefaßt und zog die Fahrt in die Kreisstadt in Erwägung. Aber wie dort hinkommen? Per Fahrrad ging es nicht, denn wie sollte er das Veloziped, das dann ja überzählig war, nach Hause bringen? Zu Fuß ging es aber auch nicht, weil der Weg zu weit war. Nun gab es zwar auch noch die Eisenbahn, aber das eigene wertvolle Leben einem so neumodischen Ding anvertrauen...? Er dachte lange und sehr gründlich nach und entschloß sich nach tagelangem inneren Ringen dann doch, sich auf die Bahn zu begeben.

Damit war allerdings die Frage aufgeworfen, was man da alles so zu bedenken hat. Irgend jemand hatte ihm verraten, daß man vor der Fahrt "am Schalter" "eine Karte" kaufen müsse, aber was es damit auf sich hatte, darüber hatte der Betreffende nichts geäußert. So entschloß sich Franz, Begerows Ella um Rat zu fragen. Die war in Bütow beschäftigt und fuhr meist mit der Bahn dorthin, sie mußte es folglich genau wissen. Als er ihr verlegen drucksend und mit vielem Mützenschirmwippen sein Anliegen vorgetragen hatte, versprach sie Hilfe, denn sie war von freundlichem Wesen. Ja, Ella besorgte ihm sogar die Fahrtkarte, was Franz mit einem ganzen Bündel dicker Aale honorierte.

Und dann war der große Tag gekommen: Franz verließ sein spartanisches Quartier schon vor Tau und Tag und marschierte querfeldein zum Bahnhof Jassener See, wo er mehrere Stunden geduldig auf die Ankunft des Frühzuges nach Bütow wartete. Er zählte unterdessen umständlich seine Barschaft, die aus 700,00 Reichsmark bestand; fünf Blauen und einer entsprechenden Anzahl Zwanziger und Zehner. Das Geld hatte er buchstäblich zusammengekratzt und bisher in seinem Strohsack versteckt gehalten, weil er jeder Sparkasse mißtraute. Bei seiner anstrengenden Zähltätigkeit geriet er ins Schwitzen, zumal er nie ein Rechenkünstler gewesen war. Als der Zug endlich sein Nahen mit deutlichem Läuten und Pfeifen ankündigte, stopfte Franz die Scheine rasch in die Brusttasche, die er mit einer Sicherheitsnadel sorgfältig zumachte und eilte dann, zum Äußersten entschlossen, auf den Bahnsteig. Das qualmende und rauchende Ungeheuer von Lokomotive hatte er bisher nur von fern gesehen, aus der Nähe flößte es ihm Respekt und Unbehagen zugleich ein. Dann genoß er es aber doch, behaglich auf der Holzbank in die Ecke des Abteils gedruckt, die Landschaft vorüberhuschen zu sehen, ohne auch bloß einen Fuß rühren zu müssen. Als hinter Neukrug und Pomeiske schon Bütow kam, fand er es erstaunlich, wie schnell das gegangen war. Viel schneller jedenfalls als mit dem Fahrrad.

Den Weg zum auch für Motorräder zuständigen Landhandel kannte er bereits, weil dem Ankauf zahlreiche Betrachtergänge vorausgegangen waren. Trotzdem wagte er sich erst am späten Nachmittag ins Geschäft hinein; wo er sich bis dahin aufgehalten hatte, blieb sein Geheimnis. Sicher hat er einen längeren inneren Kampf geführt, bis er sich zur entscheidenden Tat aufraffte. Mit dem Verkäufer wurde er rasch handelseins und bezahlte den geforderten Betrag, ohne zu murren. Was sein muß, das muß eben sein. Schwieriger wurde es allerdings, als ihm der Verkäufer die Funktion dieses technischen Wunderfahrzeuges erklärte.

Das brauchte seine Zeit, und vor Aufregung zeigte Franz eine nie gekannte Gesprächigkeit, denn ihm brannten tausend Fragen zugleich auf den Lippen. Endlich wagte er die erste Runde allein über den Hof, und er kriegte sogleich Spaß an der Sache und winkte bloß gravitätisch ab, als ihn der Verkäufer danach zu weiteren Informationen an der Ausfahrt erwartete. Er knatterte stattdessen auf die Straße hinaus und weil es nun schon auf den Abend zuging, stuckerte er als einziges Fahrzeug über das holprige Pflaster, von einigen Passanten ehrlich bestaunt. Motorradfahrer waren noch selten damals und besaßen ein Ansehen wie Oldtimerfahrer heute. Franz wußte dies und genoß das Ansehen sichtlich.

Er ratterte fröhlich am Marktplatz vorbei, und in der Lauenburger Straße bewegte er sogar schon vorsichtig den Drehgasgriff, ließ ihn aber gleich wieder zurückgleiten, als der Motor aufheulte. Erst auf der menschenleeren Chaussee nach Pomeiske setzte er das Spielchen mit dem Drehgas fort und freute sich jedesmal diebisch, wenn sein Zündappkrad gehorsam die Geschwindigkeit steigerte oder wieder verlangsamte, gerade wie es ihm gefiel. Ja, das machte richtig Spaß, und Franz war plötzlich fest davon überzeugt, daß viele Geld richtig angelegt zu haben. Bei Neukrug bog er in den Sandweg nach Bresinke ein und weil er nur im Schrittempo fuhr und an gefährlichen Flugsandstellen sich mit beiden Beinen abstützte, kam er ohne Sturz davon. In Bresinke hatte man auf sein Kommen schon seit der Mittagszeit ungeduldig gewartet, und alles lief trotz beginnender Dunkelheit aufgeregt schnatternd zusammen, als das Motorradgeräusch im Wald aus Richtung Neukrug näher kam. Ja und da kam Franz auf seinem Motorrad auch schon angefahren, zwar langsam, wie's ihm der Verkäufer in Bütow eingebleut hatte, und weil das ausgefahrene Wagengeleise auch keine schnellere Fahrweise zuließ, aber er konnte ruhig dasitzen und brauchte in keine Pedale zu treten, und das fanden alte Zuschauer ganz unerhört und doll und riefen ihm das auch begeistert zu. Franz knatterte stolz wie der berühmte Graf Koks von der Gasanstalt an ihnen vorbei und würdigte sie nicht mal eines Blickes. Darauf rannte alles aufgeregt zu unserem Haus, weil man folgerichtig erwartete, daß er dort anhalten und das Gefährt endlich zur Besichtigung freigeben werde. Aber dem war nicht so. Enttäuscht sahen die Neugierigen hinter Franz drein, der den Weg nach Groß Nossin entlang fuhr und in der Birkenallee verschwand. Das Motorengeräusch wurde allmählich schwächer, näherte sich aber nach einer Weile wieder, und dann ratterte Franz abermals durchs Dorf. Wieder war die allgemeine Enttäuschung riesengroß, als er in Richtung Eichenau über die Felder davonfuhr. Nachdem er zum drittenmal sein Spielchen mit den Neugierigen getrieben hatte und diesmal nach Jerskewitz entschwunden war, gingen die ersten wutentbrannt nach Hause. Sie hatten dem Fischer soviel Überheblichkeit nicht zugetraut und brachten ihren Unmut darüber mehr oder weniger drastisch zum Ausdruck.

Nach der sechsten Dorfdurchfahrt harrten nur noch ein paar unentwegte Jugendliche am Wegrand aus, zumal es mittlerweile stockdunkel geworden war. Sie vertrauten darauf, daß der Fischer früher oder später schon wegen Benzinmangels anhalten mußte. Aber ihre Geduld wurde noch auf eine harte Probe gestellt, denn Franz fuhr immer wieder an ihnen vorbei und schien überhaupt nicht ans Anhalten zu denken. Sie mußte ihm ungeheuren Spaß machen, diese Fahrerei.

Was niemand wußte und auch nicht ahnen konnte: Er hatte sich bei der überstürzten Abfahrt in Bütow nicht erklären lassen, wie man den Motor abstellt, und so blieb ihm gar nichts anderes übrig, als ununterbrochen weiterzufahren. Dabei wurde das bei der Dunkelheit immer gefährlicher, weil er an die Karbidlampe während der Fahrt nicht herankam.

Bei der siebenundzwanzigsten Vorbeifahrt kam er bei der Sandkaule ins Schleudern und flog mitsamt seinem Motorrad ins Wagengeleise. Er rappelte sich zwar unverletzt hoch, stand dann aber wie ein begossener Pudel vor seinem weiterknatternden Krad, dessen Hinterrad sich wie verrückt weiterdrehte. Die herbeistürzenden Jungen brachten den Motor des verflixten Dings endlich zum Stillstand und stellten es auf die Räder, wie es sich gehört. Franz nahm sein Krad wortlos in Empfang und schob damit ab und weil er sich schämte, verschwand er gleich auf seine Bude und ließ sich tagelang nicht mehr sehen. Es war ja Sommer, da kampierte er am See.

Das Krad stand ungefähr eine Woche unbenutzt im Holzschuppen herum. Endlich traute er sich wieder noch Hause und ließ sich von meinem Bruder Herbert die noch unerforschten Geheimnisse dieses tückischen Vehikels zeigen. Danach sah man Franz aber nur noch mit seinem Motorrad durch die Gegend fahren. Sprach ihn doch mal einer auf sein Mißgeschick an, wippte er bloß mit dem Mützenschirm und schwieg sich aus. Damit tat er das Klügste, was er in seinem Fall machen konnte.


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