Damals im Kreis Bütow. Geschichten aus dem Kreis Bütow von Georg Sonnenburg © 1991-2001
Erstveröffentlichung in: Die Pommersche Zeitung
Wiederabdruck in: Georg Sonnenburg, "Damals im Kreis Bütow" Frankenberg 1991, S. 85-91


Der Mondzauber

Lemms Erna stand in der Kirche vor dem Herrn Pastor und strahlte vor Glück, denn diese Stunde hatte sie schon seit einer ganzen Reihe von Jahren herbeigesehnt. Merkwürdig war bloß, daß sie den, der ihr angetraut werden sollte, bloß ganz verschwommen sah. Und noch merkwürdiger, daß sie sich an ihn so gar nicht erinnern konnte. Sie blickte verstohlen zur Seite und wurde vor Schreck wach. Mit einem Gemisch von Furcht und Niedergeschlagenheit lag sie eine ganze Weile da und starrte in die vom Mondlicht durchflutete Stube. Nebenan schlug die alte Standuhr von Brauns gerade die Mitternachtsstunde und Erna wurde noch unheimlicher zumute.

Der Kerl nämlich, der in der Kirche neben ihr gestanden hatte, daran erinnerte sie sich ganz genau, war ein wildfremder Mensch gewesen, den sie nie in ihrem ganzen Leben jemals gesehen hatte. Das war um so eigentümlicher, als sie in der näheren und weiteren Umgebung so ziemlich alles kannte, was lange Hosen anhatte. Und das waren nicht gerade wenige Kerle.

Und dann durchfuhr das still daliegende Mädchen noch einmal ein Schreck, wenn möglich sogar noch entsetzlicher als der von vorhin, der ihren schönen Traum so jäh beendet hatte: ihr wurde schlagartig bewußt, daß sie mit ihrem nahezu dreißig Lenzen ein spätes Mädchen war! Das war eine bittere Erkenntnis, die sie deshalb auch immer von sich geschoben hatte, wie das manche Menschen mit unangenehmen Tatsachen zu machen pflegen.

Erna spürte, wie sich plötzlich sämtliche Haare an ihrem Körper sträubten, was unter dem Federbett ein deutliches Rascheln hervorrief, weil sie nämlich an den Beinen mit ganz besonderer Haarpracht gesegnet war. Schuld daran war sie selbst, weil sie nämlich Brauns Walters spöttische Bemerkung aber ihren damals viel weniger ausgeprägten Haarwuchs an den Beinen zum Anlaß genommen hatte, mit Vaters Rasiermesser an ihrem Unterbau herumzuschaben. Das hatte für den Augenblick auch geholfen, dann aber dazu geführt, daß die Haare nur noch mehr gewachsen waren. Zuletzt hatte sie beinahe täglich zum Rasiermesser greifen müssen, um die heftig sprießenden Beinhaare einigermaßen im Zaum zu halten - bis sie es seufzend aufgegeben hatte und seither eine schon merkwürdig anmutende Haarpracht an ihrem Untergestell ihr eigen nannte. Wintertags war das ja einigermaßen praktisch, weil es nicht nur wie Mohairstrümpfe aussah, sondern auch so wärmte, aber sommertags...

Das war indes nicht alles, was Erna in den Augen der Männer nicht besonders attraktiv machte. Ihr fehlte nämlich im Oberkiefer auch noch ein Schneidezahn, dessen Mangel sie beim Lachen nicht reizender machte, auch wenn sie sich darüber hinwegtröstete, indem sie meinte, unter zweiunddreißig anderen falle ein fehlender gar nicht auf. An die vielen Sommersprossen hatte sie sich längst gewöhnt gehabt, als Rosins Willi, dieser Schubiak, seinen beißenden Spott darüber ausgegossen hatte. Seitdem fehlte "Schwanenweiß" nicht mehr unter ihren Toilettensachen. Schlimmer noch hatte sie Stoys Emils Bemerkung getroffen, sie stamme vermutlich "aus Münchenglattbach", schließlich wußte sie selbst, wie "schwach auf der Brust" sie war. Dann war da auch noch die Sache mit den fehlenden drei Fingern an ihrer linken Hand, die ihr Ruhnows Willis Dreschmaschine abgerissen hatte, als sie dort beim Garbeneinlegen half. Längst hatte sie erkennen müssen, daß Männer Mädchen mit zehn Fingern denen mit deren sieben vorziehen. Es war das erstemal in dieser Nacht, daß Erna sich die eigenen Mängel schonungslos vor Augen hielt, und so keimte in ihr die schmerzliche Ahnung auf, daß die wenigen amourösen Abenteuer unter Begerows uraltem Fliederbusch, die sie gehabt hatte, vermutlich alles sein würde, was ihr das Leben in dieser Hinsicht zu bieten gehabt hatte. Erna schossen Tränen der Verzweiflung in die Augen und sie schluchzte so heftig auf, daß ihr Bruder Siechel, mit dem sie die Stube teilte, sich aufrichtete und verschlafen fragte: "Wat ist denn, Ernake?" Sie blieb ihm eine Antwort schuldig und drückte sich nur unter den Federberg, wo sie ihren Kummer weiterhin rausheulte.

Erna gehörte allerdings nicht zu den Menschen, die ein ihnen auferlegtes Los stillschweigend hinnehmen. Sie dachte lange und gründlich nach und kam dabei auf die olle Mielkesche in Lupowske, die mit ihren ältlichen Töchtern in einem grünbemoosten Katen am Ortsausgang nach Bresinke hauste, und von der es hieß, sie könne "mehr als bloß Brot essen". Zwar gruselte sich Erna gehörig vor der alten Frau, die schon ganz gebückt ging und die auch sonst eine frappierende Ähnlichkeit mit einer Hexe aus Grimms Märchenbuch hatte, trotzdem schlich sie sich eines Abends zum "Ehmkenschloß" der Alten und traf diese, stumm vor dem Herdfeuer hockend und in die laut prasselnde Glut starrend, in ihrer Küche an. Im Raum war es beinahe dunkel, nur aus dem Herdloch fiel roter Schein, der das zerknitterte Gesicht der Greisin mit dem eingefallenen Mund, dem spitz vorspringenden Kinn und der scharfen Hakennase noch unheimlicher als sonst aussehen ließ. Mielkesche nahm von Ernas Erscheinen keinerlei Notiz. Sie starrte weiterhin ausdruckslos ins Feuer und rieb sich nur ab und zu die dürren Finger, weil ihr kalt war. Nachdem ungefähr eine halbe Stunde verstrichen war, faßte sich Erna ein Herz und räusperte sich geräuschvoll.

"Is wer do?" fragte die Alte da, ohne die Blickrichtung zu ändern. Das faßte Erna als Aufforderung auf, und sie berichtete Mielkeschen mit sprudelnden Worten, was sie auf dem Herzen hatte. "So, so, denn wist'n Kirl hebbe, jo?" fragte die Alte daraufhin und Erna bejahte die Frage mit bebenden Lippen.

"Ick war di helpe, Mäken", brummelte Mielkesche undeutlich, "muttst ower wedderkome, wenn Vollmond is." Damit entließ sie ihren Gast. Erna huschte wie ein Schemen nach Hause und achtete peinlich darauf, daß sie keiner aus dem "Ehmkenschloß" kommen sah. Das wäre mancheinem Schabbermaul zupaß gekommen. Obwohl es bloß noch eine Woche bis zum vollen Mond war, kamen Erna die Tage wie eine Ewigkeit vor. An dem betreffenden Abend schlich sie sich wieder wie ein Dieb ins "Ehmkenschloß" und traf Mielkesche wieder, genau wie das erstemal, vor ihrem Herdfeuer hockend an. Sie beachtete das späte Mädchen auch jetzt nicht, brabbelte dann und wann aber unverständliche Worte vor sich hin, die Erna als geheime Zaubersprüche deutete und die ihr kalte Schauer über den Rücken jagten. Endlich verriet ein heller werdender Schein vom Fenster herüber, daß der Mond über die alten Kiefern gekrochen kam, die den Katen umstanden. Mielkesche sah auf, nickte bedeutsam vor sich hin und brabbelte abermals etwas, was Erna nicht verstehen konnte. Dann stand sie auf, schlurfte zum Fenster und stieß beide Flügel auf. Sie beugte sich hinaus, reckte die dürren Arme zum Mond empor und redete auch jetzt wieder halblaut Sprüche vor sich hin. Plötzlich bölkte sie so laut los, daß Erna zusammenzuckte: "Mond, ich klag es dir! Diese Sach' mitte Kerls, die plagt ihr! Nimm sie ihr ab! Nimm sie dir zu!"

Erna sah die Alte danach noch eine Weite mit schiefgehaltenem Kopf den Mond anstarren, geradeso als erwarte sie eine Antwort von ihm. Danach nickte sie vor sich hin, machte das Fenster zu und kehrte an ihren Platz am Herd zurück. "Teiw nu aw, Mäken", brummte sie undeutlich, "ower upp emm -" sie deutete nach draußen, "kann ma sick verlote." Erna fiel bei dieser Eröffnung ein richtiger Felsbrocken vom Herzen. Sie haschte nach der Hand der Alten und drückte ihr ihre ganze Barschaft hinein, die aus genau 95 Pfennigen bestand. Mit einem artigen Knicks huschte sie hinaus, insgeheim wartend, daß ihr gleich der Mann fürs Leben über den Weg laufen werde. Tatsächlich begegnete ihr an der Bahnstrecke auch Brauns Erich, aber der machte sich genau soviel aus ihr wie immer, nämlich reine garnichts. Reichlich enttäuscht legte Erna deshalb den Rest ihrer Wegstrecke zurück. Doch die Hoffnung gab sie deshalb noch lange nicht auf.

Und weil sie der Meinung war, man müsse dem Glück stets ein bißchen nachhelfen, traf man sie in der nächsten Zeit überall an, wo gerade ein Tanzvergnügen stattfand. Das war in "Borks Krug" in Lupowske ebenso wie "Bei Erdmann" in Neukrug und in "Schwichtenbergs Krug" in Klein Pomeiske. Sie nahm auch am Sommernachtsball in Sepnitz teil, wo die Neu-Bütower Kerle Pethkes Albert das Fell gerbten, doch an ihrem bisherigen Los, als Mauerblümchen dazusitzen und zuzugucken, änderte sich nichts. Er war wie verhext, und Erna bereute es schon, der ollen Hexe ihr ganzes Erspartes gegeben zu haben.

Einmal saß sie wieder "Bei Erdmann" in Neukrug, wo die Kapelle Platzlaff aufspielte und sah wie gewohnt dem frohen Treiben der anderen zu, ohne besondere Hoffnung schon, daß sich an diesem tristen Dasein jemals etwas ändern werde. Es ging schon auf die Mitternacht zu und Erna dachte gerade darüber nach, welchen Weg sie nach Hause nehmen sollte, den näheren über Libienz, der mitten durch den Wald führte, oder den weiteren am Mutschidor entlang, da sprang die Saaltür auf und ein später Gast trat ein, den hier vermutlich noch niemand gesehen hatte. Er war nicht mehr ganz jung, auch nicht gerade groß und stattlich, hatte südländisches Aussehen und einen eigentümlich starren Blick. Mit dem erfaßte er Erna, die als einzige nicht tanzte, kam auf sie zu und verbeugte sich vor ihr. Wie schlug da ihr spätes Herz vor Aufregung und sie folgte dem merkwürdigen Fremden nur zu gern auf die Tanzfläche, wo sie sich endlich auch einmal unter all die fröhlichen Menschen mischen konnte. Nach dem Walzer ging der Kerl an die Theke, trank abwechselnd Bier und Schnaps und ließ kein Auge mehr von Erna, die ihm, wie das manchmal so ist, nach jedem Gläschen hübscher und junger vorkam. Von nun an tanzte er jeden Tanz mit ihr und erregte damit den Unwillen der anderen Jungmannen, die dem "hergelaufenen Hund" ganz einfach die Maid nicht gönnten. Es war Westphals Ernst aus Neukrug, der die Situation für den italienischen Bahnarbeiter Emilio Zanotti, der in Bütow als Rangierer arbeitete, rettete und ihn zur allgemeinen Verblüffung zum Bier einlud. Er hatte Zanotti in Bütow als einen "patenten Kerl" kennengelernt, bei dem es mit dem Deutschen zwar noch etwas haperte, der aber sonst ganz passabel war. Dies sagte er jetzt den anderen, und so schlug die Stimmung rasch um, zumal die Zeichen der Zeit günstig standen, weil sich nämlich deutsche und italienische Größen Freunde nannten. In diesen wahren Ausbruch einer Völkerverständigung wurde Erna natürlich einbezogen, und so trank sie so viele Likörchen, daß sie später gar nicht mehr wußte, wie sie nach Hause gekommen war.

Eins hatte sie sich aber genau gemerkt, daß nämlich Emilios starrer Blick von einem Glasauge herrührte. Sie rechnete dieses Manko gegen ihren fehlenden Schneidezahn und gegen die abgerissenen drei Finger auf und meinte, nicht mal schlecht dazustehen. Ein Auge ist bekanntlich von besonders hohem Wert.

Das schien Emilio Übrigens ähnlich zu sehen, denn am nächsten Sonntag kriegten Lemms Nachbarn alle Stielaugen, als der Stiefelbewohner mit einem mächtigen Strauß blauen Lupinen erschien und Ernas Eltern einen Antrittsbesuch machte. Was tat es, daß er die Lupinen unterwegs am Bahndamm gepflückt hatte? Lemms Hulda ahnte es zwar, aber ihr schossen trotzdem Tränen der Rührung in die Augen. Wann hatte ihr zuletzt jemand Blumen geschenkt? Erna betrachtete von da an ihren Emilio übrigens als einen Mann von Welt.

Lemms Paul verhielt sich da doch viel zurückhaltender. Als einem alten Soldaten behagte ihm "dieser Umgang" für seine Tochter gar nicht, zahlte er doch die Südälpler nicht gerade zu den besten Kriegern der Welt. Seine Hulda überzeugte ihn dann aber doch, indem sie treuherzig feststellte: "Wetzt, Paulke, lewer'n italscher Schwiejersöhn as 'ne Dochter, de sittenblewen is." So gab auch Paul den beiden seinen Segen und sie konnten endlich vor den Traualtar treten. Erna ist mit Emilio, den sie später bloß noch schlicht Emsch nannte, glücklich geworden, obgleich er sich jedesmal bei Vollmond wunderte, warum seine Frau immerzu durchs Fenster den bestirnten Himmel anstarrte. Wie sollte er auch ahnen, daß Sie mit ihrem Gönner am Firmament stumme Zwiesprache hielt, die ihren tiefen Dank ausdrückte.


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