Geschichten aus dem Bütower Land von Fritz Pallas
Erstveröffentlichung in: Ostpommersche Heimat 1939 Nr. 6


5. Der "Dodwok"

Diese und die folgende Geschichte entstammen wieder dem Sagenschatz des Hebammsvaters. Es sind ein paar von der gruseligen Art.

Vor vielen Jahren wohnte in Reckow ein altes Ehepaar, dessen Namen so ähnlich wie Wurch lautete. Die beiden hatten sich ihr Lebtag nicht sehr vertragen können. Sie hatten einen wohl schon mehr als dreißigjährigen Ehekrieg hinter sich.

Die alte Wurchsche war nun auch schon äußerlich mit ihrer sauertöpfischen Miene eine recht gruseliche Vertreterin ihres Geschlechts. Da sie ihrem Manne ihren Standpunkt oft so eindringlich und weithinschallend klarmachte, dass das ganze Dorf auch ohne besonderes Hinhorchen alle Phasen des jeweiligen Gefechtes genau verfolgen konnte, war es kein Wunder, dass jeder sich glücklich schätzte, ihr nicht zu begegnen, und dass jedermann ihr lieber drei Meilen aus dem Wege ging.

Manche besorgten Mütter warnten sogar ihre kleinen Kinder davor, sich dieser Frau zu nähern oder gar etwas von ihr anzunehmen. Sie verstehe das Hexen, hieß es, und wenn sie den Kindern zum Beispiel schwarze Kirschen schenke, so sei es sicher, dass die alle besprochen seine, und dass sie den Kleinen etwas damit antun könne.

In dem besagten langjährigen Ehekrieg war der Mann schließlich doch der Klügere, denn er gab nach, d.h. er zog es vor, zu sterben. Seine Witwe ("trauernde" konnte man nicht so recht sagen, eher "verblüffte") sorgte für eine anständige Begräbnisfeierlichkeit. Da ihre Wohnung die eine Hälfte eines Zweifamilienhauses war, wurde der Sarg mit dem Toten in dem gemeinsamen Hausflur auf einer Bahre niedergesetzt. Als es Abend wurde, stellte man auf das Kopfende des geschlossenen Sarges eine Petroleumlaterne, damit niemand beim Hinausgehen im Dunkeln an den Sarg stoße.

Die Trauergesellschaft saß in der einzigen großen Stube nebenan und hielt auch die Nacht hindurch ihre katholische Trauerfeier; es war dies die "Dodwok", die Totenwache. Von Zeit zu Zeit wurden Trauerlieder gesungen; dazwischen wurde zur Erholung auch ein bisschen erzählt; und zur besonderen Erfrischung und Ermunterung machte dann die Schnapsflasche die Runde. Ja, die Wurchsche hatte sich ausnahmsweise einmal von einer sehr freigebigern Seite gezeigt: es gab sogar Wein.

Zu dieser "Dodwok" gehörten auch drei Brüder Schock. Jeder von ihnen hatte nach seiner besonderen Arte einen Beinamen: der traurige, der fleißige und der lustige Schock. Der traurige suchte seine Gedanken durch die Fröhlichkeit des Weines etwas zu mildern; der fleißige tat sich durch besonders kräftiges Singen hervor, und der lustige Schock wurde durch die häufigen Rundgänge des Weinkruges und der Branntweinflasche noch lustiger als er es sonst schon war.

In den Pausen zwischen den einzelnen Trauergesängen führte er bald das große Wort, und so sehr er sich auch bemühte, ernstere, der Würde des Ortes und des Abends angemessene Geschichten vom Stapel zu lassen, es wurden doch immer wieder Schalksgeschichten und tolle Schnurren daraus, die nicht wenig zur allgemeine Auf- und Erheiterung beitrugen.

An der Wand blakte eine kleine Petroleumlampe; auf dem Tische standen ein paar Kerzen. Sie erhöhten mit ihrem Licht, ihrer Wärme und ihrem Dunst noch die Gemütlichkeit im Raum.

Wenn der Vorsänger ein neues Lied ankündigte, dauerte es jedes Mal noch ein Weilchen, bis sich das Durcheinander gelegt hatte. Dann sang er mit schon recht rostiger und heiserer Stimme vor, und die gesamte Wachmannschaft fiel kräftig ein.

Die alte Wanduhr zeigte schon ein oder zwei Stunden nach Mitternacht an, als der Vorsänger sich nach längerer Pause wieder zu einem neuen Trauerliede entschloß. Er hatte eben eine Erfrischungsprise genommen und klopfte nun energisch mit einer leeren Flasche auf den Tisch, um sich in dem Stimmengewirr bemerkbar zu machen. Die Unruhe verebbte; mit würdiger, wenn auch rauer Stimme wurde der neue Gesang angekündigt; ein Umblättern noch einiger Gesangbuchseiten. Jetzt endlich vollkommene Stille.

Der Vorsänger holt tief Luft und stößt den Brustkasten vor, um mit Trompetenstimme loszulegen. Da! – Klirrbums! Holterdipolter! Ein Heidenradau im Hausflur! – Im ersten Augenblick gelähmter Schrecken. – Dann springt alles auf und ruft durcheinander: "Wat is los! Wer is doä!" Und der lustige Schock springt als erster vor und reißt die Tür sperrweit auf, dass der Lichtschein aus der Stube in den Hausflur fällt. Da sieht alles mit gesträubtem Haar: Der Sargdeckel liegt auf der Erde, die Laterne zerschlagen daneben, und im Sarg selbst sitzt der todgeglaubte Wurch! –

Na, nun hätte die alte Wurchsche ja nicht die alte Wurchsche sein müssen. Sie, die am Ofen gesessen hatte, sieht dies unerwartete Geschehnis kaum, da erkennt sie auch schon blitzartig das folgenschwere Unglück, (man denke: Sarg – Wein – Schnaps! Alles umsonst ausgegeben!) greift hinter den Ofen, springt mit gewaltigem Satz wütend vor und prescht dem unbeständigen Toten mit der stumpfen Seite des Beils einen wuchtigen Hieb vor den Kopf.

Der war zum zweitenmal der Klügere und beeilte sich, wieder tot zu sein.

"Tä wäd naß jitzo – tere banz!" rief die Witwe erbost in kaschubischer Sprache. Und leise brummelte der schwankende traurige Schock den Ausdruck auf plattdeutsch nach: "Du bist von uns gohne – nu bliw uck!"

Am nächsten Tage wurde der Tote mit allen Ehren und mit großer Feierlichkeit begraben. Selbst die "trauernde Witwe" zeigte minutenlang so etwas wie Rührung.

Fragte man die Teilnehmer an der "Dodwok" später nach den Vorgängen in dieser Nacht, so konnte sich keiner so recht darauf besinnen, überhaupt etwas gesehen zu haben. Die Nachbarin, die die andere Haushälfte bewohnte, hatte wohl das Gepolter und den großen Spektakel im Flur gehört, aber gesehen hatte sie auch nichts; denn sie hatte krank im Bett gelegen. –

Und der Hebammsvater hat das gruselige Geschehnis dieser Nacht natürlich selbst miterlebt! – Jaja, der konnte schon Geschichten erzählen.


(Siehe zu dieser Geschichte die Vorbehalte des Herausgebers)


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