Bütowersche Vertellkes. Gesammelt und erzählt von Hans-Joachim Heß © 1983-2001
Frankenberg 1983, S. 18-28


Ferien auf dem Lande

Zu allen Zeiten und bei allen Kindern dieser Welt sind wohl die Ferien stets der beste Teil der Schulzeit. Das war auch bei uns nicht anders. Die Aufmerksamkeit, bei einigen Schülern ohnehin keine sehr ausgeprägte Tugend, ließ im Hochsommer zusehends nach und sank in der letzten Woche vor den großen Ferien auf den Nullpunkt.

Nur noch mit Mühe und häufigen Eintragungen ins Klassenbuch konnten die Lehrer ihre Zöglinge auf den Schulbänken halten. Der weite, strahlendblaue Himmel, mit leichtem Gewölk übersat, der ganz Hinterpommern und erst recht unserm buckligen, blauen Ländchen seinen besonderen Reiz verlieh, zog Jungen und Mädchen in gleicher Weise mit magischer Kraft in die sonnendurchflutete Natur, an die Seen und in die weiten Wälder. Welch ein befreiendes Gefühl, wenn die Pausenglocke das Ende der letzten Schulstunde anzeigte! Rasch die Tasche oder den Tornister geschnappt, und mit lautem Hallo brauste der ganze Haufen aus dem Schultor in die soeben neu gewonnene Freiheit. Nach weiteren 100 Schritten war der ganze Schulmief vergessen, und das goldene Zeitalter der sechs schönsten Wochen des Jahres hatte begonnen. Die Gedanken stürmten den hurtig ausschreitenden Füßen weit voraus, waren bereits am Gilling, auf der Wanderschaft, bei Fahrt und im Lager oder, wenn man einen guten Freund auf dem Lande hatte, auf einem Bauernhof unseres Kreises. Jedes Mal aufs neue konnte man erfreut feststellen, wie eng doch unsere städtische Jugend mit dem Lande verbunden war, wie sie die harte Arbeit der Landbevölkerung zu schätzen wußte und ihr ihren Respekt, hie und da auch wohl mal etwas Ehrfurcht, nicht versagte.

In einem Werbespruch, der bei uns lange Zeit die Runden machte, hieß es: "Stadt und Land, Hand in Hand", und diesen Ausspruch konnte man sehr wörtlich nehmen.

Die scharfe Trennungslinie, ja manchmal sogar eine gegenseitige tiefe Abneigung, wie sie in der heutigen Zeit zu beobachten ist, konnte man in Stadt und Land Bütow nicht feststellen. Unsere Stadtkinder zogen gerne aufs Land und waren froh, wenn sie eine Gelegenheit dazu hatten. Wie vielfältig waren da die neugewonnenen Eindrücke! Der weite Horizont, die ganze Umgebung, die Menschen mit ihren derben Gewohnheiten, eben der ganze Lebensrhythmus. Alles war etwas anders und doch war es nicht fremd. Heute wurden wir sagen: "Und doch war es unser Bütow, war es unsere Heimat." Das auszusprechen, wäre damals niemandem eingefallen, aber jeder hat es irgendwie doch gespürt.

Hier soll nun von zwei unzertrennlichen Schulfreunden die Rede sein, die stets Freud und Leid miteinander teilten, für derbe Scherze immer zu haben waren, die geklauten Bonbons gemeinsam auflutschten und auch die nachfolgende Prügel gemeinsam einsteckten. Wir wollen sie mal Peter und Paul nennen. Aus der Stadt der eine, vom Land der andere. Daß die beiden sich auch während der Ferien nur in Ausnahmefällen trennten, versteht sich am Rande. Gleich am ersten Tage ging es auf lohnenden Pfaden zu lohnenden Zielen, die Paul, als der Ortskundige, vorher auszukundschaften hatte. Sehr oft aber sorgte der Zufall für die besten Erlebnisse und Begegnungen. So konnten sie an einem frühen Morgen, angelockt durch ein in Todesangst schreiendes Schwein, zunächst noch aus respektabler Entfernung beobachten, wie zwei Landleute auf recht umständliche und ungeschickte Weise versuchten, das Borstenvieh in den dafür vorgesehenen Transportkäfig zu komplimentieren. Die dicke Sau hielt es für höchst unangebracht, sie, nachdem sie ihr kalorienreiches Frühstück zu sich genommen hatte, in ihrer gewohnten Verdauungsruhe zu stören. Von irgendwelchen Ausflügen mit Pferd und Wagen oder gar Reisen mit der Deutschen Reichsbahn hielt sie nun schon ganz und gar nichts. Auch war ihr der um das eine Hinterbein gebundene Strick äußerst lästig, und die dauernden antreibenden Schläge mit einem Stock veranlaßten Jolante zu lautem Protest sowie zu aktivem und passivem Widerstand. Als mehrere Versuche, den Specklieferanten in diesen tückischen Kasten zu bugsieren, fehlgeschlagen waren, gab die Dame des Hauses ihrem wenig erfolgreichen Mann mit schrillster Stimme folgenden, wie sich bald zeigen sollte, verhängnisvollen Befehl: "Wilhelm, du, du, mußt dat Schwien anne Schwanz foate!" So schallte es keifig durch die Morgenstille und Wilhelm, ohnehin an höhere Weisungen gewöhnt, befolgte die Anordnung seines Haushaltungsvorstandes umgehend. Das hätte er nicht tun sollen. Diese Behandlung hielten Jolante und auch Peter und Paul, die sich dem Tatort inzwischen auf Fletschenschußweite genähert hatten, für unzumutbare "Schweinerei". Wenn das Borstenvieh auch noch etwas gezögert hätte, so gab ein gutgezielter Schuß mit der Fletsche (Katapult) seinem Freiheitsdrang starken Auftrieb und setzte enorme Kräfte frei, denen Wilhelm nichts Gleichwertiges entgegenzusetzen hatte. Die Sau machte einen befreienden Satz, ihr stolzer Besitzer trat zu allem Unglück auch noch auf den Strick am Hinterbein und landete in einem saftigen Kuhfladen. Damit war die Vorstellung zunächst für kurze Zeit unterbrochen, und Peter und Paul hielten es für ratsam, den Fortgang der Dinge aus sicherer Entfernung zu beobachten.

Nach kurzer Verschnaufpause, die beide Parteien gut gebrauchen konnten und in der Wilhelm die übelriechenden Spuren des bisherigen Kampfes beseitigt hatte, gelang es mit Hilfe einiger Nachbarn, Jolante nun endgültig ihrer Freiheit zu berauben. Sie resignierte und fügte sich in ihr Schicksal. Der stolze Besitzer zog den Sonntagsnachmittagsdreiuhrausgangsanzug an, steckte sich eine Groschenzigarre ins Gesicht, und mit Dampf ging es, jeder Zoll ein Gentleman, aus dem Tor in Richtung Bahnhof. Bliebe noch zu erwähnen, daß beim Verassen des Heimatdorfes die Zigarre ausgemacht und kurz vor der Bahnstation wieder in Brand gesetzt wurde. Auf dem Heimweg folgte dann die gleiche Amtshandlung. So fuhr man immer mit Dampf und das alles für einen einzigen Groschen! Die Zuteilungen für den persönlichen Bedarf durch den schon erwähnten Haushaltungsvorstand waren knapp bemessen und Wilhelm, ein mehr als geduldiger und anspruchsloser Mensch, ertrug dazu auch noch das tägliche Gezeter seiner "besseren" Hälfte mit Langmut. Es konnte aber passieren, daß auch bei ihm die Sicherung durchbrannte, und dann biß selbst unser gutmütiger Schweinebezwinger kräftig um sich.

Bei einem Streifzug durch die Randgebiete des Dorfes wurden Peter und Paul auf ein in äußerster Erregung und mit erheblicher Lautstärke geführtes Streitgespräch aufmerksam. Noch waren sie durch einige Hecken und Sträucher von dem Ort der Handlung getrennt und konnten nicht erkennen, worum es eigentlich ging. Neugierde und aufkommende Erlebnisfreude beflügelten die Schritte, andererseits mußten sie aber darauf bedacht sein, nicht zu früh bemerkt zu werden. Jede Deckung geschickt ausnutzend, pirschten sie sich vorsichtig an und beobachteten Wilhelm und Anna beim Bau eines Holzschuppens. Offensichtlich hatte Anna die dringend erforderlichen Nägel verlegt. Um sich zu rechtfertigen, stellte sie Schutzbehauptungen auf, die bei Wilhelm das Blut in Wallung brachten. Unsere beiden Freunde bekamen nachfolgenden Dmlog rmt.

Er: "Wo hest du denn de Nächel?" (eine bei uns sonst nicht gebräuchliche Ausdrucksweise). Sie: "Wat wist du, ull dämlich Kierl, ick heb se dor doch henlecht!" Er: "Nimm se doch, wenn du se henlecht hest, nimm se doch!" Dazu war nun aber Anna auch nicht in der Lage, und so standen sich die beiden wie zwei Kampfhähne gegenüber. Beide den Achterstewen nach hinten rausgestreckt, den Oberkörper soweit vorgebeugt, daß sich die Nasenspitzen beinahe berührten, die Arme nach hinten haltend, so stand man sich kampfbereit gegenüber und funkelte sich zornig an. In diese Stille vor einem durchaus möglichen Sturm und nach eingehender Musterung seines Gegenübers ertönte Wilhelms Stimme: "Ach Gott, wenn ick dien ull lang Näs all immer sei! " Die ganze Situation war nun doch so komisch, daß Peter und Paul sich das Lachen nicht mehr verkneifen konnten und laut rausplatzen. Vielleicht wurde auf diese Weise eine tätliche Auseinandersetzung vermieden.

Für Ruhe und Frieden, sowie für beschilderte und beleuchtete Wagen zu sorgen, war der Lebenszweck der Landgendarmen, und von einem ganz besonderen "Prachtexemplar", nicht von der Allgemeinheit, soll hier die Rede sein.

Vater Staat hatte seine getreuen Diener, die sich in den allermeisten Fällen aus Zwölfendern der Stolper Husaren rekrutierten, recht gut untergebracht. Eine Dienstwohnung in Form eines Landhäuschens und ein Stall, in dem das Federvieh, manchmal auch ein Schwein und der Stolz des Uniformierten, sein Streitroß, untergebracht waren, machten das Leben nicht nur erträglich, sondern auch recht angenehm.

Hinzu kam noch, daß der Bauer versuchte, sich mit der örtlichen Polizeibehörde auf guten Fuß zu stellen, und dies wirkte sich nun wiederum auf die Speisekammer und somit auf den Leibesumfang unseres Ortsgewaltigen aus. Auf jeden Fall ist noch keiner von diesen Brüdern irgendwo in Hinterpommern verhungert, und wenn einer kurz vor der Pensionierung noch rank und schlank war, war es eben ein passionierter Sportler oder der Kerl war selbst zum (Fr)essen zu faul gewesen.

Das Wort Streß war in diesen Kreisen vollkommen unbekannt, und es gab nur selten eine derartige Aufregung, die das Wackeln der wilhelminischen Bartspitzen bewirken konnte. Das Leben verlief in geordneten, reglementierten Bahnen ohne besondere Tiefen und von der Beförderung abgesehen, ohne besondere Höhen.

Wenn da nun zwei Bengels bei Einbruch der Dunkelheit mit einem unbeleuchteten Wagen durch die Gegend fuhren, so war das schon eine besondere Begebenheit, die das Auge des Gesetzes, wenn auch nur in Hemdsärmeln, an seine Pflicht gemahnte und zum energischen Einschreiten veranlaßte. Mit finsterer Amtsmiene und wackelnden Schnurrbartspitzen herrschte er die beiden, friedlich ihres Weges ziehenden, Freunde an: "Halten Sie mal an!" "Wir nehmen keinen mit!" kam die schlagfertige Antwort. "Warum haben Sie kein Licht?" "Wir fürchten uns nicht", schallte es prompt zurück. Der Fahrer knallte einmal mit der Peitsche, die Pferde sprangen in eine schnellere Gangart, und zurück blieben die wackelnden Schnurrbartspitzen, die breiten Hosenträger und der runde, leicht asthmatische Bauch. Der Kopf mit den vor Zorn geröteten Hängebacken konnte jedem Comic-Strip entnommen sein und drohte zu zerplatzen. Ohne vorschriftsmäßige Dienstkleidung, Herr Wachtmeister, keine Amtshandlung und keine Ausübung polizeilicher Gewalt!

Nun hatte unser Ordnungshüter aber noch eine andere, sehr leicht verwundbare Stelle. Es waren seine "Reitkünste". Wenn in der Regel unsere Gendarmen nicht nur gut beritten, sondern auch gute Reiter waren, so gab es doch, wie wir gleich sehen werden, auch hier Regel und Ausnahme. Die Regel wurde allerseits mit Respekt zur Kenntnis genommen, die Ausnahme dagegen bildete die Zielscheibe für den Spott der, ach, so bösen Mitmenschen und hier besonders der bösen Buben.

So wurde schon seit einiger Zeit von einer Zeremonie gesprochen, die sich mit großer Regelmäßigkeit jeden Tag um ca. 9 Uhr m einem größeren Dorf unseres Kreises abspielen sollte.

Peter und Paul waren zur richtigen Zeit am richtigen Ort und harrten im Verborgenen der Dinge, die da kommen sollten. Zunächst passierte aber gar nichts. Dann erschien Frau Gendarmerieoberhauptwachtmeisterin mit einem Holzschemel, stellte diesen neben die Milchbank des benachbarten Bauern und verschwand wieder. Da - nach kurzer Zeit der Hufschlag eines Pferdes auf dem Kopfsteinpflaster! Aber Peter und Paul warteten vergebens auf den stolzen Reiter in der Uniform eines preußischen Gendarms. Es erschien wider Erwarten abermals Frau Wachtmeisterin und zog den Dunkelbraunen am langen Zügel hinter sich her. Die Volksbelustigung begann damit, daß der Wallach nicht so wollte wie seine rundliche Amazone. Er sollte sich gehorsam neben die Milchbank stellen, und dieser Dressurakt gelang erst nach langem Hin und Her und gutem Zureden. "Na, ja, hat ja mal wieder geklappt, Gott sei Dank!!!" So dachte die rundliche Mammi und dankte deshalb ihrem Schöpfer. Alles war vorbereitet, Pferd und Holzschemel standen genau an dein gewünschten Platz, der große Auftritt des Hauptakteurs konnte beginnen und er begann.

Stolz wie ein Spanier betrat er sporenklirrend die Szene. Die auf Hochglanz polierten Stiefel glänzten in der Sonne, das Koppel umgürtete, wenn auch im letzten Loch, den rundlichen Leib des personifizerten Gesetzes. Uniform und Tschako saßen wie angegossen, der Außendienst konnte beginnen. Der etwas verunglückte "Cheruskerfürst" näherte sich dem Holzschemel, bestieg denselben und gelangte von dort, wenn auch mit einiger Mühe, auf die Milchbank. Wie er da oben stand und auf die zu seinen Füßen liegende Welt runterschaute, bot er immerhin eine imposante Erscheinung, fast wie das Denkmal im Teutoburger Wald. Verständlicherweise hatte unser Ordnungshüter jetzt das Bestreben, sich in dieser gehobenen Stellung nicht allzulange dem Volke zu präsentieren und den begreiflichen Wunsch, rasch in den Sattel zu kommen. Hier war aber nun der Dunkelbraune ganz anderer Meinung. Er wußte aus Erfahrung, daß ihm ein anstrengender Vormittag bevorstand, wenn er die 100 kg erst auf seinem Rücken hatte und leistete sich die erste Befehlsverweigerung, indem er sich so weit von der Milchbank abdrehte, daß sein Herr nicht auf seinen Rücken gelangen konnte.

Die Assistentin führte das Pferd einmal im Kreise, etwa in einer Art Volte, wieder an die Milchbank heran, auf der ihr sporenklirrender Gebieter sehnsüchtig wartend stand und langsam nervös wurde. Aber auch der zweite Anlauf mißlang. Wieder war der Wallach geschickter als Frau Wachtmeisterin und beging die zweite Befehlsverweigerung. Erst beim dritten Versuch gelang es dem Auge des Gesetzes, auf den Pferderücken zu kommen, nachdem seine Frau sich mit aller Kraft und dem Mute der Verzweiflung gegen das sich wieder abdrehende Hinterteil des Gaules gestemmt hatte und der Wallach als der Klügere nachgab.

Peter und Paul dachten nur: "Wie schade, daß unsere Fletsche nicht soweit reicht. Der Dicke wäre mit Sicherheit schneller wieder unten, als er raufgekommen ist." Was aber nicht ist, kann noch werden. Seine Marschroute lag fest, und so war es eine Kleinigkeit, aus irgend einem Hinterhalt den Katapult treffsicher abzuschießen.

Der Dunkelbraune machte wenige erschreckte Sprünge, einmal links, einmal rechts und entledigte sich so seiner Last, die auch für jedes gute Reitpferd eine Zumutung bedeutete. Die dörfliche Obrigkeit fand sich im Sande wieder, rappelte sich mühsam auf und folgte seinem auf- und davongaloppierenden Wallach in Richtung Heimat. Für diesen Tag war der Außendienst beendet.

Aber nicht nur die bösen Buben, sondern auch die Kraftfahrzeuge bereiteten unserem stolzen Reiter einigen Kummer und Verdruß.

So eine Bütower Landstraße war in den meisten Fällen nur auf einer Seite chaussiert, die andere bestand aus dem sogenannten Sommerweg. Nun schrieb die Straßenverkehrsordnung, und die war auch für einen Gendarm bindend, schon damals vor, daß man rechts zu fahren und links zu überholen hatte. Da aber jeder Reiter, um sein Pferd zu schonen, den Sommerweg benutzte, ritt er in der einen Richtung immer auf der falschen Straßenseite. Wenn einige Kraftfahrer nun den "Cheruskerfürsten" (à la Bütow) auf der linken Seite des Weges antrafen, nahmen sie es mit den Straßenverkehrsvorschriften sehr genau. Sie näherten sich dem stolzen Reiter zunächst nach Möglichkeit geräuscharm, um dann aber um so lauter Zwischengas zu geben und zu hupen. Roß und Reiter schreckten aus ihren Träumen auf, und sehr oft fand sich auch hier das Auge des Gesetzes im Sande des Sommerweges wieder und sah seinem stallwärts galoppierenden Pferde traurig nach.

Auf nicht gerade löblichen Pfaden bewegten sich nun Peter und Paul an einem anderen Tage ihrer Ferien, und hier hätte es leicht ins Auge gehen können. Schon immer hatten die Jagdwaffen auf die beiden Unzertrennlichen einen besonderen Reiz ausgeübt. Ohne Munition sind aber Bockbüchse wie doppelläufige Flinte lediglich Dekorationsstücke. Niemals und mit keiner List war an die dazugehörigen Patronen zu kommen, die im Schrank sicher verschlossen und somit unerreichbar waren. Da kam ein glücklicher oder wie man will, unglücklicher Zufall zur Hilfe. Bauer und Bäuerin wollten zur Stadt fahren und machten sich gerade startklar. Da klopfte es, und herein trat Vater Krause. Langsam, jedes Wort einzeln vom Plattdeutschen ins Hochdeutsche übersetzend, fragte er: "Ist der Herr Amtsvorsteher tus?" Was "to Hus" oder kurz "tus" auf Hochdeutsch hieß, fiel ihm nicht ein, und so gebrauchte er hier eben die verbreitetere plattdeutsche Sprachweise, was uns Bengels natürlich belustigte. Auf die Antwort, er möge doch Platz nehmen und einen Augenblick warten, setzte er sich und montierte aus lauter Langeweile erst einmal die Schreibtischlampe auseinander. Als er sie wieder zusammenbauen wollte, versagten seine technischen Fähigkeiten, und so legte er die einzelnen Teile dem Herrn Amtsvorsteher zur weiteren Verwendung und nähreren Betrachtung auf den Tisch. Vielleicht konnte der mit solchem neumodischen Kram besser umgehen. Der hatte nun aber ohnehin schon wenig Zeit; da kam auch noch dieser alte Krause, und zu allem Unglück zerlegte der Unglücksrabe die Schreibtischlampe! Bei den in Eile zu erledigenden Amtsgeschäften, beim Anblick der demontierten Lampe und im Hinblick auf die ohnehin schon knappbemessene Zeit wurde die örtliche Amtsgewalt nervös und vergaß, den Schreibtisch abzuschließen. Diese Unterlassungssünde sollte weitreichende Folgen haben.

Nachdem Vater Krause rauskomplimentiert worden war und der Wagen mit der Amts- und häuslichen Obrigkeit aus dem Dorf gerollt war, unterzogen Peter und Paul den Schreibtisch sofort einer gründlichen Untersuchung. Zunächst große Enttäuschung! Die Jagdmunition war auch hier nicht zu finden. Weiter nichts als Akten, Schreibmaterial und allerhand Zeugs, mit dem Lausejungen nichts anzufangen wissen - Scheibenkleister! Blieb noch die obere Schublade. Ei, was haben wir denn da? Da lag doch tatsächlich m einer dazugehörigen Tasche eine echte Pistole, Marke "browning", Kaliber 7,65 mm nebst ausreichender Munition. "Ja, ist denn das nichts, Marie, ist das denn gar nichts?" So schoß es unseren Freunden durch den Kopf. Dieses gefährliche Spielzeug mußte natürlich sofort aus seinem Gefängnis befreit und gründlich untersucht werden. Nachdem man sich über Handhabung und Wirkungsweise im klaren war, konnte zur praktischen Erprobung geschritten werden.

Hierbei waren nur zwei Punkte von äußerster Wichtigkeit. Erstens durften unsere Schießübungen von den übrigen Mitbewohnern des Hofes weder optisch noch akustisch wahrgenommen werden und zweitens, und das war noch wichtiger, durfte nichts passieren. Nach Erörterung der zur Verfügung stehenden Möglichkeiten und bei Beachtung aller eventuell auftretenden Gefahrenmomente, hielten Peter und Paul den langen Schweinestall für den am besten geeigneten Ort zur Erprobung ihrer Schießkünste. Erstens lag er etwas abseits, zweitens wirkte seine ganze Baukonstruktion stark schalldämmend, und drittens bot er den beiden angehenden "Meisterschützen" über die Schweinebuchten hinweg ein freies Schußfeld. Außerdem war mit ungebetenen Gästen zu dieser Zeit hier nicht zu rechnen. Ein äußerst wichtiger Punkt! Ein Stück Pappe war schnell an der gegenüberliegenden Wand befestigt, und die Ballerei konnte beginnen. Übung macht auch hier den Meister, die Einschläge lagen schon in nächster Nähe der Pappe, da passierte es! Plötzlich schrie ein Schwein auf, daß es einem durch Mark und Bein ging! Was aber noch schlimmer war, es hörte gar nicht auf und war drauf und dran, seinen Attentätern das ganze Dorf auf den Hals zu schreien. Unsere beiden Freunde wollten ihm noch den erlösenden Fangschuß geben, da streckte es alle Viere von sich, tat noch einen letzten Seufzer und begab sich auf die große Reise in den Schweinehimmel. Kein Laut mehr, ganz friedlich lag es da, und noch heute Dank euch, ihr Stallwände, die ihr keinen Ton nach draußen dringen ließet! Die Folgen hätten grausam sein können. Für trübsinnige Betrachtungen allerdings war jetzt wenig Zeit vorhanden. Irgendwie mußte die Missetat vertuscht werden, wenn nicht ein bestimmter Körperteil eine sehr schmerzhafte Behandlung erfahren sollte. Also keine Panik, nur kühler Verstand konnte hier weiterhelfen. Das Schwein, Gewicht ca. 60 kg, war tot, aber wo war der Einschuß, der uns hätte verraten können? Nach längerem Suchen wurde der Querschlager kurz unter dem Rückgrat entdeckt. Einen Ausschuß gab es nicht. Nur ein ganz schwaches Blutrinnsal verriet die Wunde. Die Blutung wurde mittels Schweinemist zum Stillstand gebracht. Aber was nun?

Da kamen Peter und Paul auf einen genialen Einfall. Jeder weiß, daß die ganze "Schweinerei" eine gierige, äußerst verfressene Bande ist, und hierin lag die Rettung vor dem großen Strafgericht. Konnte es nicht passieren, daß ein Schwein dieser Größe sich beim Klang der Futtereimer in seiner Freßgier zwischen Krippe und dem ersten Brett des Zaunes derart einklemmt, daß es sich bei den Befreiungsversuchen das Genick bricht? Natürlich ist das möglich. Also, rasch einen Hammer her, das unterste Brett losgeschlagen, das Schwein mit dem Kopf über die Krippe gelegt und das Brett wieder so angenagelt, daß jeder sehen mußte, ja, das Borstenvieh hat sich das Genick gebrochen. Tatbestand sonnt: Selbstverschulden eines eben dummen Schweines.

Unsere beiden Missetäter indes vertrauten der alten, juristischen Weisheit, daß der nicht im Recht ist, der Recht hat, sondern der, der Recht bekommt! Dieser Grundsatz erwies sich auch hier wieder einmal als zutreffend. Kurz bevor es Zeit zum Füttern war, kamen die älteren Herrschaften von Bütow zurück und brachten auch noch gleich sehr netten, die Aufmerksamkeit einschläfernden Besuch mit.

Bei der Abfütterung wurde nun, wie konnte es anders sein, festgestellt, daß sich ein Schwein in gieriger, selbstmörderischer Absicht vom Leben zum Tode befördert hatte. So ein dummes Schwein!

Der Bauer war der Meinung, man sollte wegen der Geringfügigkeit nicht den Abdecker bemühen, und dieser Meinung stimmten Peter und Paul durchaus und sehr nachdrücklich zu. Sie kamen auch der Aufforderung, den "Selbstmörder" sofort zu bestatten, mit viel Fleiß und Gewissenhaftigkeit nach, hauptsächlich was die Tiefe der Grube anbelangte.

Daß die Tatwaffe längst gereinigt wieder an ihrem Platz lag, durfte keine Frage sein. Der Hang zum Waffenhandwerk hatte allerdings vorerst einen kräftigen Dämpfer erhalten.

Schnell war der Schweinemord vergessen. Jeder Tag bot neue Erlebnisse und brachte neue Überraschungen.

So kam an einem schönen, warmen Sonntag Onkel Vehlow aus Gersdorf zu Besuch. Onkel Paul hatte immer viel Verständnis für junge Menschen und war deshalb auch selbst bei Lausebengels sehr beliebt.

An diesem Tag aber war er nicht nur sehr beliebt, sondern dazu auch noch äußerst interessant. Wenn auch nicht so sehr er selbst, so doch sein Gefährt. Es war die Zeit, als die ersten Kleinmotorräder aufkamen. Wir nannten sie nach dem Hersteller des Motors ganz einfach Sachs-Motorräder. Sie hatten 50 Kubikzentimeter Hubraum und brachten es auf stolze 40, mit Rückenwind und angelegten Ohren auch auf 50 Studenkilometer. Heute nennt man so ein Minikrad Moped oder Mofa und in Eigenbauweise umfrisiert, sind es die Krachmacher der Nation.

Wie leuchten auch heute noch die Augen unserer Jungen und Mädchen beim Anblick eines solchen Fortbewegungsmittels! Wenn man damit darüber hinaus auch noch fach- und sachkundiger Besitzer eines solchen Minifeuerstuhls ist, so gewinnt man innerhalb der jungen Gemeinschaft enorm an Ansehen und Geltung. Das war damals nicht anders, nur, wer hatte schon solch ein Ding! Junge Menschen standen schon immer und zu allen Zeiten technischen Neuerungen sehr aufgeschlossen gegenüber. Peter und Paul bildeten sicherlich keine Ausnahme. Bot sich hier doch eine gute Gelegenheit, sein technisches Wissen auf den neuesten Stand zu bringen, und die durfte man nicht ungenutzt verstreichen lassen.

Als die älteren Herrschaften ihre Begutachtung abgeschlossen und sich zu einem gemütlichen Umtrunk zurückgezogen hatten, konnten unsere beiden Freunde die Maschine einer eingehenden Musterung unterziehen.

Gas, Kupplung, Gänge, Bremsen und was es sonst noch gab, waren in ihrer Funktion bald erkannt und mit der Erkenntnis wuchs das Bedürfnis, diesen fahrbaren Untersatz auch einmal auszuprobieren. Gleich an Ort und Stelle, nein, das ging nicht. Die ersten Fahrversuche wären sofort von höherer Stelle unterbunden worden. Die Probefahrten mußten also in einer Entfernung vorgenommen werden, bei der das Geknatter die Testfahrer nicht mehr verraten konnte. So wurde das Moped, Baujahr 1936, von Peter und Paul regelrecht entführt. Mit von der Partie war noch der "Spitzgedackelte Schäferhund", Senta, eine gut geglückte Bütower Promenadenmischung. Die Gegend um den Ententeich hielten unsere "Mopednapper" für ein durchaus geeignetes Versuchsgelände. Festgetretene Gehwege, daneben ein ausgefahrener Sandweg, der bei eventuellen Stürzen stoßdämpfend wirken konnte, und hauptsächlich eine ausreichende Entfernung zum Besitzer dieser Verlockung und dessen Gastgeber waren die ausschlaggebenden Kriterien. Peter, als Gast des Hauses, unternahm den ersten Versuch. Einmal kurz aber kräftig angetreten, Gas gegeben und siehe da, unser Moped war ein braves Fahrzeug und sprang sofort an. Peter war recht stolz auf diesen so reibungslos geglückten Start und sah darin eine Art Selbstbestätigung seiner technischen Fähigkeiten. Aber auch für Paul war das Geknatter Musik in den Ohren. Wenn er sich auch auf dem Pferderücken besser aufgehoben fühlte, so übte diese Neuheit doch auch auf ihn einen starken Reiz aus. Peter zog jetzt die Kupplung, legte den ersten Gang ein, gab Gas, - und ab ging die Post! Welch ein erhebendes Gefühl, so ohne jegliches Dazutuen, nur indem man das Gas mehr oder weniger aufdrehte, schneller oder langsamer dahinzurollen! Gleichwohl, dieses erhebende Gefühl sollte nicht lange anhalten, denn unsere spitzgedackelte Senta hatte etwas gegen Lebewesen, die sich nicht auf natürliche Weise fortbewegen! Ihr Protest äußerte sich zunächst in einem lauten Gebell, womit sie Peter aber nicht beeindrucken konnte. Durch diese Mißachtung ihrer Auffassung ließ sie sich zu aggressivem Handeln hinreißen und kniff mehr als sie biß unseren Testfahrer in den rechten Oberschenkel. Das hatte dieser wiederum nicht gerne und war so erbost, daß er im Augenblick die ganze Motorradfahrerei vergaß, sich mit einer eleganten Flanke vom fahrbaren Untersatz löste, diesen sich selbst überließ und mit dem Störenfried abrechnen wollte. Daraus wurde auch nicht viel. Nachdem der Köter einen Erdklumpen ins Kreuz bekommen hatte, ergriff er schleunigst das Hasenpanier und strebte dem schützenden Hofe zu.

Nun aber zu unserem Sachs-Motorrad. Da lag es nun im Sand und war für weitere Testfahrten nicht mehr ansprechbar. Rein äußerlich war alles in Ordnung. Nichts verbogen, nichts verbeult, nichts abgebrochen, es mußte ein inneres Leiden haben. Nur was? So sehr unsere beiden Freunde auch suchten, überlegten, wieder suchten und sich abmühten, es war alles vergebens! Mehr als die Kompressionsgeräusche beim Durchtreten der Pedalen gab der fahrbare Untersatz nicht her! So fand eine hoffnungs- und erwartungsvoll begonnene Testfahrt rasch ihr frühzeitiges Ende, und die Entführer brachten das entführte Moped genauso heimlich wieder zurück, wie sie sich mit ihm davongeschlichen hatten. Sie stellten es wieder auf den alten Platz und harrten der Dinge, die da kommen mußten. Doch die ließen auf sich warten.

Erst am späten Abend verabschiedete sich der Gast und wollte seinen ca. 30 km langen Heimweg antreten. Ein letztes "Aufwiedersehen", die üblichen Handgriffe, das übliche Antreten mit den Pedalen, doch auch bei dem Meister höchstpersönlich verweigerte seine neueste Errungenschaft den Dienst und hüllte sich in beleidigtes Schweigen.

Jetzt wurde nochmals all das durchexerziert, was Peter und Paul vor einigen Stunden schon am Ententeich mit vergeblicher Mühe versucht hatten. Umsonst! Unsere beiden Übeltäter beobachteten die ganze Szenerie versteckt aus einem Fenster des Dachgeschosses und enthielten sich wohlweislich eines jeglichen Kommentars. Man sollte ja keine schlafenden Hunde wecken! Wieder und Wieder wurde unten gesucht, probiert und montiert und Gott sei's gedankt, da waren die ersten Explosionen zu hören, und der Sachs-Motor tat es wieder. Ruhig lief er im Stand und ließ auf eine gute Heimkehr seines Besitzers hoffen. Dieser wusch sich noch rasch die Hände und machte sich dann auf den Heimweg.

Das war ja noch mal gut gegangen!

Wenn auch keine größeren Nachforschungen seitens der älteren Generation angestellt wurden, so mußte man doch davon ausgehen, daß sie wohl wußten, aus welchem Knopfloch der Wind geweht hatte.

Peter und Paul ihrerseits mußten einsehen, daß es bis zu einem Rennfahrer für Gras- und Sandbahnrennen noch ein sehr weiter Weg war.


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